Im wohl letzten großen NS-Prozess gesteht der frühere SS-Mann Oskar Gröning sein Mitwirken am Massenmord im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Er tut es in entsetzlicher Offenheit.

Lüneburg - Er packt sein Käsebrot aus und beißt hinein. Oskar Gröning macht Mittagspause. Eben noch hat er berichtet, wie das damals war im Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau. Der heute 93-Jährige gerät dabei ins Plaudern. Wodka spielt in den Geschichten des früheren SS-Mannes eine Rolle. Auch an das Eisentor mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ erinnert er sich. Er nennt es „schön geschmiedet“ – Erzählungen aus Auschwitz, vorgetragen von einem früheren SS-Mann, der sich 70 Jahre nach Befreiung des Konzentrationslagers wegen Beihilfe zum Massenmord an 300 000 Kindern, Frauen und Männern vor Gericht verantworten muss.

 

Ihm gegenüber sitzen fünf Auschwitz-Überlebende und Hinterbliebene derer, die von der SS ermordet wurden. Rund 60 Nebenkläger nehmen an dem Prozess teil. Sie leben heute in den USA, in Ungarn, in Kanada, in Israel. Sie sind weit über 80 Jahre alt, weswegen nur wenige nach Lüneburg reisen konnten.

Es ist der wohl letzte große NS-Kriegsverbrecher-Prozess, der an diesem Dienstag vor dem Landgericht Lüneburg begonnen hat. Die Holocaust-Überlebenden haben nicht mehr zu träumen gewagt, dass sie diesen Moment noch erleben werden. Im vergangenen Jahr ließ die 4. Große Strafkammer des Landgerichts Lüneburg unter Vorsitz von Richter Franz Kompisch die Anklage der Staatsanwaltschaft Hannover gegen Oskar Gröning zu.

Als der Staatsanwalt die Anklage verliest, streikt das Mikrofon

Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Es ist ein historischer Moment, als Staatsanwalt Jens Lehmann die Anklage vorträgt. Ein historischer Moment, der verzerrt und mit Aussetzern im Saal ertönt. Das Mikrofon ist kaputt. Die Stimme des Staatsanwalts dringt verzerrt durch die Lautsprecher. Lehmann spricht trotzdem weiter: „In Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wurden zwischen 1940 und 1945 mindestens 900.000 Menschen meist jüdischen Glaubens und jüdischer Abstammung sogleich nach ihrer Ankunft getötet. Die Tötung erfolgte ganz überwiegend mittels Vergasungen in eigens dafür geschaffenen Anlagen, sogenannten Gaskammern, durch das Giftgas Zyklon B.“ Die Mikrofonanlage spielt verrückt. Richter Franz Kompisch tut nichts. Lehmann sagt, dass die Menschen, die nicht gleich getötet wurden, später durch unmenschliche Arbeitsbedingungen oder auf andere erbarmungslose Weise ums Leben kamen.

Als Lehmann beginnt, die Namen von Opfern zu verlesen, fällt das Mikrofon komplett aus. Erst jetzt bringt ein Techniker ein neues. Die Anklagebehörde wirft Oskar Gröning vor, mit seinem Dienst in Auschwitz-Birkenau das reibungslose Funktionieren der Tötungsfabrik des NS-Regimes mit ermöglicht zu haben. Mindestens 1,1 Millionen Juden sowie Zehntausende nichtjüdische Polen, Russen, Sinti und Roma starben insgesamt in dem Vernichtungslager.