Vor 50 Jahren begann der erste Auschwitz-Prozess. Die Justiz sollte den Völkermord an den Juden mit den dafür ungeeigneten Normen des alten Strafrechts aufzuklären. Immerhin: Die Verhandlungen öffneten der Republik die Augen.

Stuttgart - Als der Gerichtsvorsitzende Hans Hofmeyer vor fünfzig Jahren, am 20. Dezember 1963 den Auschwitz-Prozess in Frankfurt eröffnete, sagte er, dies sei kein Prozess über Auschwitz, sondern ein Strafverfahren „gegen Mulka und andere“. Damit beschrieb er zutreffend ein juristisches und politisches Dilemma: Die Richter mussten sich an die Vorgaben des deutschen Rechts halten – dies setzte zugleich der Erkenntnis Grenzen, was „Auschwitz“ wirklich war.

 

Der Lagerkommandant Rudolf Höß, den die Polen 1947 hinrichteten, hatte von der „größten Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten“ gesprochen und stolz bemerkt, bis zu zehntausend Menschen, überwiegend Juden, seien pro Tag getötet worden. Das Personal umfasste mehr als viertausend SS-Angehörige, in Frankfurt waren 22 davon angeklagt. Man hatte sie mühsam ausfindig machen müssen in der bürgerlichen Welt, in der sie wieder lebten, als wäre nichts geschehen. Nicht von ungefähr lautete der Titel eines deutschen Nachkriegsfilms: „Die Mörder sind unter uns“. Die Täter waren noch aus einem anderen Grund schwer zu ermitteln: Wer als Angehöriger des SS-Totenkopf-Sturmbanns Morde beging, blieb meist anonym und wurde nur mit seinem Rang erwähnt.

Karl Jaspers forderte einen internationalen Strafgerichtshof

Insgesamt wurde in Auschwitz mehr als eine Million Juden ermordet. Die genaue Zahl kennen wir bis heute nicht. War dieser Völkermord auch nur annähernd mit den Mitteln des deutschen Strafrechts zu bewältigen, das doch auf den subjektiven Täter und den individuellen Schuldnachweis abstellt? Der Philosoph Karl Jaspers hatte schon damals angemerkt, diese Aufgabe müsse einem internationalen Strafgerichtshof übertragen werden.

Im Prinzip ein richtiger Gedanke, aber wer hätte ihn errichten wollen? Oder hätte die deutsche Justiz nicht vielmehr von sich aus auf die Kategorien des Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesses zurückgreifen und wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen können, ja müssen? Warum das krampfhafte Festhalten an einem Täterstrafrecht, das aus dem Jahr 1871 stammte?

Eben dieses Recht erlaubt keine Verurteilung aufgrund eines Gesetzes, das erst nach der Tat, also rückwirkend, ex post facto ergangen ist. Mit diesem Grundsatz hatten die Nürnberger Statuten gebrochen, was deutsche Juristen missbilligten und was ihrer Meinung nach dem Nürnberger Prozess einen Anstrich von „Siegerjustiz“ gab. Parallel zu den von Alliierten geführten Kriegsverbrecher-Prozessen mussten deutsche Gerichte entsprechend den alliierten Kontrollratsgesetzen den Straftatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ auch auf Taten anwenden, die nach deutschem Recht zu der Zeit, als sie verübt worden waren, keine Straftatbestände gewesen waren. Als die Besatzungsmächte nach und nach und dann endgültig 1955 deutschen Gerichten volle rechtliche Selbstständigkeit gewährten, wurden alle NS-Prozesse an westdeutschen Gerichten nach regulärem Strafrecht geführt. Hinzu kam, dass der Bundestag 1956 die Kategorien Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit annullierte.

Gegen das „Schlussstrich“-Denken der fünfziger Jahre

Auch das Grundgesetz erkennt zwar den Vorrang des Völkerrechts an, ausdrücklich verbietet es aber rückwirkend geltend gemachte Strafverfolgungsnormen. Das bedeutet, dass Verbrechen des Völkermords, wie sie im deutschen Strafrecht als Paragraf 220 strafbewehrt wurden, nur auf künftige Verstöße angewandt werden durften, nicht aber auf die Gräueltaten der Nationalsozialisten. Unter diesen rechtlichen Auspizien fand der Auschwitz-Prozess statt. Auch wenn ihm das manchmal Unbehagen bereitete, so musste sich der Richter Hofmeyer daran halten, wenn er zu einem revisionsfesten Urteil kommen wollte.

Doch unabhängig davon bedeutete die Tatsache, dass ein Prozess um den Komplex Auschwitz überhaupt stattfand, einen Durchbruch in einer Gesellschaft, die in den fünfziger Jahren entschlossen war, einen Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit zu ziehen. Damals konnte man den Eindruck haben, der Massenmord an den Juden habe gar nicht stattgefunden, und wenn überhaupt, dann nicht auf deutschem Boden, sondern weit weg im Osten. Merkwürdigerweise hatte der Nürnberger Prozess gegen die Spitzenleute des NS-Regimes dazu beigetragen, diese Verdrängungsmentalität zu stärken. Zwar war dort die Vernichtung der Juden zur Sprache gekommen, aber das volle Ausmaß war damals noch nicht erkannt worden. Nach der Verurteilung der NS-Repräsentanten meinte man, nun seien die eigentlichen Täter und damit die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen. Während 1946 noch siebzig Prozent der Westdeutschen den Kriegsverbrecherprozessen zustimmten, lehnte vier Jahre später ein ebenso hoher Prozentsatz diese ab. Man forderte ein Ende des „modernen Hexentreibens“.

Die Demokratie war noch nicht gefestigt

In ihren ersten Jahren stand die Bundesrepublik noch keineswegs auf gesichertem Boden. Noch war die Demokratie ein „Lernprozess“. Enges nationalistisches Denken war keineswegs verschwunden, und in dem Maße, in dem sich die neue Republik etablierte, gewannen rechte Kräfte an Boden. Auch unter den Gemäßigten fanden sich viele, die dazu beitrugen, die Kriegsverbrecherfrage zu politisieren. Der schleswig-holsteinische Justizminister Bernhard Leverenz (FDP) forderte, was viele dachten: die Vergangenheitsforschung sei „nicht Aufgabe der Justiz, sondern der Historiker“. Im Lauf dieser Historisierung zog man das „System Nürnberg“ mehr und mehr in Zweifel und verteidigte jene, die dort in den sogenannten Nachfolgeprozessen verurteilt worden waren.

Das Eintreten für die „Gefangenen von Landsberg“ – eine der von den Alliierten kontrollierten Haftanstalten – rief auch Kräfte auf den Plan, von denen man es nicht erwartet hatte. So setzte sich Karl Arnold, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, massiv für Ernst von Weizsäcker ein, den vormaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Man dürfe nicht zulassen, dass ein Mann wie er „unschuldig in Landsberg als Kriegsverbrecher gefangen gehalten wird“. Fehlurteile der Militärgerichte müssten korrigiert und eine Verordnung zu Befriedung des deutschen Volkes erlassen werden.

Auch führende Kirchenmänner wie der württembergische Landesbischof Wurm fühlten sich in ihrem Nationalgefühl verletzt und traten für die Verurteilten von Landsberg ein. Die deutsche Politik drängte die Alliierten zu einer „großen Gnadenaktion“, die tatsächlich – zögernd – in Gang kam. Bemerkenswert war der Fall des Martin Sandberger, der Estland „judenfrei“ gemacht hatte. Im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess war er 1948 zum Tode verurteilt worden, aber die Exekution wurde ausgesetzt. Der in Stuttgart ansässige Vater, ein FDP-Mitglied, konnte sogar den Bundespräsidenten Heuss dazu bewegen, für Sandberger einzutreten. Heuss schrieb an den Bonner US-Botschafter James Conant: „Gnade ist der schönste Teil, der dem Recht beigeordnet ist.“ Mit den letzten Landsberger Häftlingen wurde auch Sandberger 1958 entlassen. Was in der Hoffnung auf eine bessere, vom Völkerrecht geprägten Zukunft begonnen wurde, endete in den Niederungen politischer Opportunität.

Ein Nationalsozialismus ohne Nationalsozialisten?

Das hatte vor allem mit dem Widerstreben der Deutschen zu tun. Aufklärung wurde abgewehrt, denn letztlich ging es um Schuld und Verantwortung einer ganzen Nation. Der Nationalsozialismus wurde nur noch abstrakt und allgemein moralisch verurteilt, es gab die Taten, aber ohne Täter, den Nationalsozialismus, aber ohne Nazis. In diesem Klima des Schlussstrichs fühlte sich auch die Justiz zu größter Nachsicht herausgefordert. Bis Ende der fünfziger Jahre wurden viele Verfahren erst gar nicht eröffnet, weil angesichts milder Urteilspraxis mit einer die Amnestiegrenze überschreitenden Strafe nicht zu rechnen war. Hinzu kam, dass zahlreiche Richter und Staatsanwälte selbst zu den Belasteten gehörten. Diese Schonung ermöglichte es vielen ehemaligen SS-Angehörigen, eine neue Existenz aufzubauen und in die Bürgerlichkeit zurückzukehren.

Dennoch herrschte dröhnendes Schweigen. Man konnte sich auf Dauer nicht der Einsicht verschließen, dass nicht abnorme Kriminelle die Verbrechen verübt hatten, sondern Menschen aus der eigenen Umgebung, Verwandte, Nachbarn, Kollegen. Erst 1958 bekam der Panzer der Bürgerlichkeit Risse. Es begann mit dem Ulmer Einsatzgruppen-Prozess. Der Hauptangeklagte, einst Polizeichef in Tilsit, hatte in Stuttgart hartnäckig versucht, in den Staatsdienst zurückzukehren. Er fiel Ulmer Staatsanwälten auf, wurde vor Gericht gestellt und zu zehn Jahren Freiheitsstrafe wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.

Was Fritz Bauer und Karl Moersch bewirkten

Angeregt von diesem Prozess, aber auch von Forderungen des Braunschweiger Generalstaatsanwalts Fritz Bauer forderte der junge FDP-Politiker Karl Moersch die Gründung einer deutschen Behörde, die in aller Welt Daten und Fakten über Nazitäter sammelt und Ermittlungen einleitet. Der württembergische Justizminister Wolfgang Haussmann las Moerschs Artikel und handelte. Schon im Dezember 1958 nahm die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ ihre Arbeit in Ludwigsburg auf. „Ihr geistiger Vater ist Fritz Bauer“, sagte Karl Moersch.

Fritz Bauer stammt aus einer jüdischen Stuttgarter Familie, studiert Jura in Tübingen, wird 1930 Deutschlands jüngster Amtsrichter. Er tritt der SPD bei und trifft sich regelmäßig im Schlossgartencafé mit Kurt Schumacher, damals Redakteur der „Schwäbischen Tagwacht“. Nach der Machtübernahme der Nazis wird Bauer ins Lager Heuberg gesperrt. Danach flieht er ins Exil nach Dänemark. Nach dem Krieg wird er Generalstaatsanwalt in Braunschweig. 1956 beruft der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn den hartnäckigen Naziverfolger als Generalstaatsanwalt nach Hessen. In Kollegenkreisen ist Bauer nicht beliebt. „In der Justiz lebe ich wie im Exil“, sagt er. „Wenn ich mein Dienstzimmer verlasse, betrete ich feindliches Ausland.“ Dennoch gelingt ihm die Vorbereitung des ersten Auschwitz-Prozesses, der vor fünfzig Jahren begann. Ein in Argentinien lebender ehemaliger KZ-Häftling teilt Bauer mit, er habe den Judenverfolger Adolf Eichmann in Buenos Aires identifiziert. Bauer gibt das nach Israel weiter. Der Geheimdienst Mossad nimmt Eichmann fest und verbringt ihn nach Israel. Dort wird er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Hunderte von Zeugen wurden vernommen

Eher zufällig geriet Bauer in Frankfurt an Informationen, die in ihm den Plan reifen lassen, einen Prozess zum Auschwitz-Komplex zu führen. Mit großer Zähigkeit verfolgte er dieses Ziel.

Ermittlungen wurden gegen 25 Beschuldigte eingeleitet, von denen bei Prozessbeginn 22 angeklagt und schließlich über zwanzig geurteilt wurde. Die Voruntersuchung wurde dem Richter Heinz Düx übertragen, der dabei ein Engagement bewies, das Anfang der sechziger Jahre in der bundesdeutschen Justiz bei NS-Prozessen ungewöhnlich war. Er vernahm Hunderte von Zeugen und reiste, obwohl seine Vorgesetzten nicht einverstanden waren, als Privatmann nach Auschwitz. Seinem Einsatz ist es zu danken, dass der Auschwitz-Prozess gründlich und umfassend geführt werden konnte. Später schrieb Düx: „Der Auschwitz-Prozess war ein Novum in der deutschen Justizgeschichte. Vorher hat es solche Prozesse nicht gegeben, und man wollte sie auch nicht. Es ist dem damaligen hessischen Generalstaatsanwalt zu verdanken, dass es doch zu diesem Prozess kam und dass er sich dem Ermittlungsverfahren mit allem Nachdruck widmete, unbeeindruckt von dem Hass und der Häme der Personen, die den Mantel des Vergessens über die NS-Verbrechen breiten wollten.“ Bauer selbst sprach dem Prozess auch eine pädagogische Funktion zu, weil er seinen Mitbürgern ihre eigene Verantwortung für diese Verbrechen vor Augen führte.

Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr, was „Auschwitz“ war

Tatsächlich erfuhr die deutsche Öffentlichkeit erstmals, was während des Krieges in und um Auschwitz geschah. Zwar war es aus juristischen Gründen nicht die volle Wahrheit. Wenn Zeugen sie zu schildern versuchten, wurden sie nicht selten zurechtgewiesen. Als eine Zeugin berichtete, wie während der Deportation Säuglinge in den Händen ihrer Mütter starben, wandte der Staatsanwalt ein: „Beschränken Sie sich auf das juristisch Wesentliche.“Es ist Bernd Naumann, dem Reporter der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zu danken, dass wir ein nahezu vollständiges Bild des Prozessverlaufs haben. Bis zu dessen Ende 1965 saß er täglich im Gerichtssaal. Er schilderte die Kläglichkeit der Angeklagten, die sich auf einen vermeintlichen Befehlsnotstand herauszureden versuchten. Und er registrierte auch, dass von deren Seite kein Wort des Bedauerns oder der Scham kam. All das war doch geschehen in einer Welt, die hinter ihnen lag und mit ihrer bürgerlichen Existenz nichts zu tun hatte. Als der Schriftsteller Horst Krüger erstmals den Prozess besuchte, fragte er einen Bekannten, wo denn die Angeklagten seien, denn die älteren Herren in Schlips und Kragen waren denkbar unauffällig und bewegten sich frei unter den Prozessbesuchern. Resozialisierung war bei diesen Angeklagten kein Thema.

Von den zwanzig Angeklagten bekamen sechs lebenslang Zuchthaus wegen Mord. Zehn Angeklagte erhielten Zuchthaus zwischen drei und vierzehn Jahren. Einer erhielt zehn Jahre Jugendstrafe. Drei der Angeklagten wurden freigesprochen – meist aus Mangel an Beweisen, weil das Gericht Belastungszeugen für „unglaubwürdig“ hielt oder einzelne ihrer Aussagen für „nicht zuverlässig genug“. Ein Völkermord wurde abgehandelt nach deutschem Recht.