Graue Busse und das Stuttgarter Kabel-Attentat: Eberhard Kögel vom Verein Allmende nimmt rund 40 Geschichtsinteressierte mit auf einen Spaziergang durch das Kernen-Stetten zu Zeiten der NS-Diktatur.

Im Mai vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Organisiert vom Verein Allmende Stetten, der Geschichtswerkstatt David Pfeffer, dem Gedenkort Hotel Silber und dem Stadtjugendring Stuttgart, hat der Heimatforscher Eberhard Kögel am Samstag rund 40 Interessierte auf einen spannenden Rundgang durch das Dorf in der NS-Zeit mitgenommen – zu den Opfern aus der ehemaligen Anstalt Stetten, der heutigen Diakonie, zu den Tätern und zu Orten des Widerstands.

 

Von Kriegszerstörungen blieb Stetten weitgehend verschont. Doch die Menschen in dem beschaulichen Weinort erlebten früh und hautnah die dramatischen Folgen der „neuen Zeit“ mit. Die Behindertenmorde des Jahres 1940 waren die ersten Massenmorde der Nazis, noch vor dem Holocaust und der Vernichtung der Sinti und Roma, die auf der „Wissenschaft“ der Eugenik, der Erb- und Rassenpflege gründeten.

Stetten war durch die Anstalt im Ort besonders betroffen

Nur die Stärksten sollten überleben, und die Bewohner der Anstalt zählten nicht dazu. Früh kam die Anweisung aus Berlin, die „Insassen“ zu erfassen. Anhand dieser Listen wurden nach dem 1. Januar 1934, nachdem das „Gesetz zur Verhütung von erbkrankem Nachwuchs“ in Kraft getreten war, mehr als 100 Bewohnerinnen und Bewohner der Anstalt Stetten zwangssterilisiert. Später waren die Listen die Grundlage für die Todestransporte nach Grafeneck. „Ideologisch und willig unterstützt“ worden sei die Aktion vom Führungspersonal der Anstalt, das überwiegend „braun“ war, so Eberhard Kögel.

Spätestens als die grauen Busse regelmäßig vor der Anstalt vorfuhren und die Bewohnerinnen und Bewohner, insgesamt 328, für immer verschwanden, konnten die Stettenerinnen und Stettener ihre Augen nicht mehr verschließen. „Es gab einige, die Leute aus der Anstalt versteckt haben, ob Abgehauene zurückgebracht oder ausgeliefert wurden, ist nicht bekannt, aber auch nicht ausgeschlossen“, sagte Kögel, dessen Großonkel Ernst Friedrich Beurer, der als Kind an einer Hirnhautentzündung erkrankt gewesen war, zu den Nazi-Opfern gehörte.

Lange habe sich die Diakonie schwer getan, die Geschehnisse aufzuarbeiten, berichtete der Stettener Heimatforscher. Mitte der 1990er Jahre wurde der „Stein des Gedenkens“ aufgestellt, in dessen Spalten die Namen der Toten eingemeißelt sind. Danach wurde die Doktorarbeit von Dr. Martin Kalusche in Auftrag gegeben. Sein Buch „Das Schloss an der Grenze“ ist allgemein anerkannt als Standardwerk zur Erforschung der NS-Geschichte einer Behindertenanstalt.

Zeichen der Erinnerung und des Widerstands

Der Spaziergang in die Dorf-Vergangenheit führte in die Hindenburgstraße, die ehemalige Obergass. Dort liegen die Stolpersteine für Marta Schmid, die am 5. November 1940 mit dem 4. Stettener Transport nach Grafeneck kam und am selben Tag ermordet wurde – und für Oswald Link, der der Neuapostolischen Gemeinde angehörte und im „Arbeitserziehungslager“ Aistaig-Oberndorf starb. Auch das Geburtshaus von Hermann Medinger, genannt Mendel, lag auf dem Weg. Der aus einer Wengerterfamilie stammende Zimmermann war einer der Beteiligten beim „Stuttgarter Kabelattentat“ am 15. Februar 1933. Zusammen mit drei Genossen schnitt er Adolf Hitler, der zum Auftakt des Wahlkampfs in der alten Stuttgarter Stadthalle sprach, das Wort ab, indem sie die Kabel für die Übertragungen auf den Marktplatz und im Rundfunk kappten.

Vorbei ging es an der Glockenkelter – seit 1933 war sie, wie auch der „Hirsch“ und die „Linde“, ein NSDAP-Parteilokal gewesen. Von 1943 an waren in der Kelter Zwangsarbeiterfamilien untergebracht worden. Weiter ging der geschichtliche Spaziergang zum Pfarrhaus neben der evangelischen Kirche. Dort erinnert eine Gedenktafel an die junge Pfarrersfrau Hildegard Spieth, die das jüdische Ehepaar Krakauer bis zum Kriegsende versteckte. Derweil wurde ihr Ehemann, Pfarrer Helmut Spieth, der der Bekennenden Kirche nahestand, zur „Strafe“ zur Wehrmacht eingezogen. Er kehrte erst 1950 aus englischer Kriegsgefangenschaft nach Stetten zurück.