Kritiker der Fachzeitschrift „Tanz“ wählten in einer Umfrage für Ballett, Tanz und Performance das Stuttgarter Ballett zur Kompanie des Jahres.  

Berlin/Stuttgart - Die Nachricht kommt nicht überraschend für Reid Anderson, den Intendanten des Stuttgarter Balletts - die Redaktion der in Berlin ansässigen Zeitschrift "Tanz" hatte den Kanadier vor ein paar Wochen informiert, dass die diesjährige "Kompanie des Jahres" das Stuttgarter Ballett sein würde: zum ersten Mal, seit der Titel vergeben wird. Die Freude ist dem 62-Jährigen anzuhören, als er am Montag aus Ibiza am Telefon die Auszeichnung kommentiert: "Ich bin superglücklich. Wir werden zwar öfter geehrt - die Schülerinnen und Schüler der John-Cranko-Schule, die Tänzer - aber dieses Votum nehme ich sehr ernst. Es zeigt, dass unsere Arbeit anerkannt wird. Und es ist nicht nur toll für die Tänzer, sondern bedeutet eine Ehrung des gesamten Stabes, ja, der Württembergischen Staatstheater insgesamt mit ihren Abteilungen, sei es das Orchester, die Kostümabteilung oder die Maske."

 

In der Jahresumfrage des Fachmagazins für Ballett, Tanz und Performance hatten dreißig Kritiker aus Deutschland, aus Kopenhagen, London, Madrid, Lissabon, Paris, Tokio, Mailand, Montreal und Wien Bilanz gezogen, waren gebeten worden, das Beste aus der Saison 2010/11 zu nennen, aber auch, was verärgert und verstört hat. Kein leichtes Unterfangen, denn die internationale und deutsche Tanzszene ist weit gefächert und den jeweils ästhetischen Zielen nach sehr unterschiedlich strukturiert. Von der freien Szene mit ad hoc zusammengestellten Ensembles bis zu den Traditionskompanien, von völlig unterfinanzierten Produktionen bis zu gut dotierten Staatsballettabenden ist die Vielfalt enorm. Es scheint fast ungerecht, einen Nenner zu finden bei unterschiedlichen Formaten wie einer experimentellen Performance und einem abendfüllenden Handlungsballett; aus dem Kompaniepool von der finnisch-britischen Truppe Oblivia aus Helsinki bis zum Ballett der Pariser Oper "das Beste" oder "die Besten" zu fischen.

Mit drei Nennungen wurde das Stuttgarter Ballett vor dem Tanztheater Wuppertal und Martin Schläpfers Ballett am Rhein in Düsseldorf (beide mit jeweils zwei Stimmen) in der Kategorie "Kompanie oder Kollektiv des Jahres" an erster Stelle platziert. Der Grund lag auf der Hand: fünfzig Jahre Cranko-Mythos. Die Journalisten hoben das Fünfzig-Jahr-Jubiläum hervor, das Anfang des Jahres ausgiebig gefeiert worden war. In der Laudatio der Zeitschrift hieß es, dass sich die Stuttgarter "erfolgreich wie keine andere Truppe der eigenen Musealisierung entziehen".

Die Kultusministerin gratulierte

Auch die baden-württembergische Kunstministerin Theresia Bauer gratulierte am Montag. Bauer sieht in der Auszeichnung den eindrucksvollen Beleg für die "ungebrochen lebendige Tanztradition auf allerhöchstem Niveau. Seit fünfzig Jahren setzt das Stuttgarter Ballett auf der ganzen Welt Maßstäbe und ist mit seinen erstklassigen Gastspielen auf den großen internationalen Bühnen zu einem wichtigen kulturellen Botschafter des Landes geworden".

Wie buntscheckig die Tanzszene geworden ist, und dass das klassisch-akademische Ballett nur eine von vielen Ausdrucksformen darstellt, dokumentieren die Ergebnisse in den weiteren Kategorien. "Tänzerin des Jahres" wurde die in Berlin ansässige Brit Rodemund, die in Helena Waldmanns Auseinandersetzung mit der Demenz, dem Soloprojekt "revolver besorgen" vier Kritiker beeindruckte. Nachdem im letzten Jahr ein danseur noble, Friedemann Vogel vom Stuttgarter Ballett, zum "Tänzer des Jahres" gekürt wurde, ging der Titel diesmal an einen Performer. Jared Gradinger beeindruckte drei Beobachter in der knapp einstündigen Produktion "What they are instead of" am Berliner HAU, wo der New Yorker Künstler gemeinsam mit Angela Schubot die "Auflösung und Neukonfiguration" der Körper erkundete.

Nach 2010 einigte man sich erneut auf Sidi Larbi Cherkaoui aus Antwerpen als "Choreografen des Jahres". Der Name steht für eine Art Welttanz. "Ob auf Korsika, in China oder in Indien - überall tritt ein neugieriger Performer auf, der vor allem Alleingänge hasst... Wie spielerisch verknüpft er Kulturen und Ästhetiken und vermehrt so vor allem eins: den Glauben an einen wahrhaftig globalen Tanz," heißt es im "Tanz"-Jahresbuch.

Wer bekommt diemal was drauf?

Obwohl danach gefragt, wurde in diesem Jahr keine "Aufführung des Jahres" benannt. Lediglich zwei Aufführungen erhielten zwei Nennungen: Martin Schläpfers "Forellenquintett" und "Political Mother" des Briten Hofesh Shechter.

Die Ärgernisse gehören bei solchen Umfragen zu den besonders interessiert gelesenen Stücken. Wer bekommt diesmal was drauf? Hier gab es ebenfalls ein hiesiges Thema. Die Verzögerungen beim Neubau der John-Cranko-Schule und die Anfrage der Grünen im Gemeinderat, die den Bau etwas kleiner haben wollen, fanden einige ärgerlich. Mehr erregte die Verbindung von Film und Tanz die Gemüter. Einige lobten Wim Wenders Hommage an Pina Bausch, andere hielten die Dokumentation "Pina" für ein "schön fotografiertes Missverständnis", nannten den Film "naiv".

Erfreulich für die einen, ärgerlich für die anderen war Darren Aronofsky Hollywood-Thriller "Black Swan" mit Natalie Portman in der Hauptrolle, als eine Primaballerina am Rand des Wahnsinns. Geeignet, "Tanzfernen den Bühnentanz näherzubringen", war eine Meinung, zu klischeehaft die andere. Ärgerlich wiederum fanden einige Tanzexperten genau diesen Klischeevorwurf durch die "Lordsiegelbewahrer des Balletts", gemeint waren die Kompaniechefs John Neumeier und Ivan Liska, die nach dem Herauskommen des Films sich aus Hamburg und München meldeten.