Forscher der internationalen Rising-Star-Expedition legen in südafrikanischen Höhlen bei Johannesburg unzählige Knochen von Urmenschen frei – und brechen ein Tabu. Ein Besuch bei den „Untergrund­astronauten“.

Johannesburg - Sie haben nicht zu viel versprochen. „Wir machen dies zur offensten paläoanthropologischen Ausgrabung aller Zeiten“, kündigte das Team der Wissenschaftler um den US-Forscher Lee Berger an. Und tatsächlich öffnet der Wächter bereitwillig das Tor mit dem Schild „Privatgelände. Zutritt verboten“. „Ich muss mit Lee Berger sprechen“, genügt als Passwort, um auf das Ausgrabungsgelände in der „Wiege der Menschheit“ vorzudringen, eine hügelige Region knapp 50 Kilometer nordwestlich von Johannesburg, die mit ihren unzähligen Höhlen als reichste Fundstätte versteinerter Urmenschenknochen der Welt gilt. Seinem Ruf ist das etwa 50 000 Hektar große Gebiet nun ein weiteres Mal gerecht geworden, und zwar gleich auf sensationelle Weise: Drei Wochen nach Beginn der Rising-Star-Expedition hat ein internationales Forscherteam bereits mehr als 500 Knochenteile geborgen. „Und wir sind noch lange nicht fertig“, sagt der Züricher Paläoanthropologe Peter Schmid. Eigentlich hätte dem Reporter der Zutritt zu der Zeltsiedlung gar nicht gewährt sollen. So wörtlich war das mit der „offenen Ausgrabung“ auch wieder nicht gemeint. Schließlich können die Wissenschaftler außer mit der Flut täglich geborgener Fossilien nicht auch noch mit Besucherströmen fertig werden. Außerdem wird die Expedition größtenteils von der amerikanischen National Geographic Society finanziert, die sich die exklusive mediale Vermarktung der Ausgrabung im Internet nicht von streunenden Journalisten streitig machen lassen will. Da der Reporter seinen Weg ins sogenannte Wissenschaftszelt an zahlreichen Wärtern vorbei nun aber schon mal gefunden hat, zeigt ihm der Schweizer Schmid auch schnell den Unterkieferknochen, der zusammen mit mehreren makellos erscheinenden Zähnen gerade aus der Höhle geholt wurde. „Davon haben wir gleich mehrere“, sagt Schmid, ohne seine Begeisterung mit wissenschaftlicher Nonchalance zu übertünchen. Die Forscher haben außerdem eine Schädeldecke, Ober- und Unterschenkelknochen, ein Stirnbein sowie unzählige Wirbel und Beckenfragmente freigelegt. Sie gehen davon aus, dass es sich um die Überreste von mindestens elf Individuen handelt.

 

Die Forscher müssen in die 18-Zentimeter-Spalte passen

Im Nachbarzelt, der „Kommandozentrale“, sitzt unterdessen der US-Anthropologe John Hawks vor einem Schirm, auf dem die Bilder von neun Kameras zusammenlaufen. Darauf zu sehen sind Frauen in Overalls und mit Grubenlampen auf der Stirn, die vorsichtig mit kleinen Bürsten und Schabern Knöchelchen aus weichem Dreck befreien – Szenen, die live aus 30 Meter Tiefe kommen. Der Eingang zur Höhle befindet sich nur wenige Meter hinter dem Kommandozelt. Er steht allerdings nur Spezialisten und – vor allem – nur grazilen Personen offen. Denn in dem teils schräg, teils senkrecht abfallenden Höhlengang müssen sich die Fossiliensucher auch durch eine 18 Zentimeter breite Spalte quetschen – der Grund, warum es sich bei sämtlichen der sieben „Untergrundastronauten“ (Berger) um schmale Frauen handelt. Die in aller Welt rekrutierten Forscherinnen müssen allerdings außer schlank auch hochqualifiziert sein. Es handelt sich ausnahmslos um promovierte Paläontologinnen oder Archäologinnen.

Gefunden wurde die beispiellose Schatzkammer von den südafrikanischen Höhlengängern Steve Tucker und Rick Hunter, die sich zum Zeitvertreib durch die ausgehöhlte Landschaft der „Wiege der Menschheit“ hangeln. Der in Johannesburg lehrende US-Paläoanthropologe Berger, der bereits vor fünf Jahren durch den Fund zweier weitgehend erhaltener Australopithecus-Skelette (Australopithecus Sediba) internationales Aufsehen erregte, hatte den Club der Höhlenforscher aufgefordert, eventuelle Knochenfunde unverzüglich zu melden. Im Oktober war es so weit: Ticker und Hunter stießen in der in Sichtweite zur weltberühmten Ausgrabungsstätte Sterkfontein gelegenen Rising-Star-Höhle auf frei herumliegende Fossilien. Merkwürdigerweise sind die Knochen hier nicht in den Sandstein eingebacken, sondern liegen auf weichem, entkalktem Grund. Warum das so ist, ist den Wissenschaftlern noch ein Rätsel.