Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: Anna Goletti und Stefano Gastoni aus Italien.

Ostfildern/Pavia - Um es gleich zu sagen: Die meisten Italiener finden Deutschland zu kalt, die Deutschen zu arbeitsam, zu humorlos auch. Der Kaffee nördlich der Alpen ist natürlich eine Katastrophe. Und der Fußball in Italien sowieso um Längen besser.

 

Insofern ist Anna Goletti keine typische Italienerin. Die junge Frau mit den dunklen Locken und den braunen Augen schwärmt geradezu von Deutschland. Gemeinsam mit ihrem Mann Stefano Gastoni ist sie bereits zum zweiten Mal in die Region Stuttgart gezogen. Und jetzt überlegen sie ernsthaft, ob es dieses Mal für immer sein soll. Auch weil sie ihrem anderthalbjährigen Sohn Leonardo eine bessere Zukunft bieten wollen, wie Anna Goletti sagt.

Aber der Reihe nach: Das Paar aus Pavia in der Nähe von Mailand, sie 34 und Italienischlehrerin, er 42 und Ingenieur, wohnt in einem gepflegten Mehrfamilienhaus in Ostfildern-Ruit. Vor der Haustür stehen ein Kasten Franziskaner Weißbier und ein Kasten Rothaus. „Aber der Wein, den wir trinken, ist italienisch“, sagt Anna fast entschuldigend. An der Tür hängt eine Holztafel mit einem lachenden Besen und dem Schriftzug „Kehrwoche“. „Das muss ja schließlich gemacht werden“, sagt Anna Goletti und lächelt. Sie hat gerade Wäsche auf dem schmalen Balkon aufgehängt. Ihr Mann Stefano ist zum Kindergarten aufgebrochen, um Leonardo abzuholen.

Das Abenteuer Deutschland begann vor neun Jahren. Stefano Gastoni arbeitete in der Mailänder Niederlassung von Festo. Der Weltkonzern für Automatisierungstechnik machte ihm das Angebot, für ein paar Jahre in die Zentrale nach Esslingen zu wechseln – „eine Art interkulturelles Programm“, sagt Stefano. Die Aufgabe reizte ihn, obwohl er damals so gut wie kein Deutsch konnte.

Eine schwierige Rückkehr

Anna Goletti hatte zwar „Fremdsprachen für die internationale Verständigung“ studiert, doch das half nicht viel, denn ihre Fächer waren Englisch und Hindi (wie sie auf Hindi kam, ist ihr heute ein Rätsel). Aber sie freute sich auf die neue Erfahrung. Fest entschlossen belegte sie gleich mehrere Deutsch-Intensivkurse. Knapp ein Jahr später folgte sie ihrem damals Noch-nicht-Ehemann Stefano nach Ostfildern. Sie lernte weiter fleißig Deutsch, bekam einen Job als Italienischlehrerin in Stuttgart. „Wir haben uns willkommen gefühlt“, sagt sie.

Drei Jahre blieb das Paar im Schwäbischen, 2011 lief der Vertrag aus, und die beiden zogen wieder nach Pavia. Annas Miene verdüstert sich etwas, wenn sie von der Rückkehr spricht. Sie macht einen Espresso auf klassisch italienische Art in einem Bialetti-Espresso-Kocher. Dann erzählt sie ein Erlebnis, das ihr wichtig ist. Es war kurz nach ihrer Rückkehr nach Pavia: Anna fuhr mit dem Bus nach Mailand, und dabei fielen ihr plötzlich Dinge auf, für die sie früher nie einen Blick hatte: „Die Häuser und die Straßen“, sagt sie, „alles war so grau, so kaputt und so verwahrlost.“ Damals sagte sie sich: „Es gibt etwas Besseres.“

Südliche Lässigkeit, Sonne, italienisches Palaver in der Café-Bar wurden zweitrangig. „Uns hat etwas gefehlt in Italien“, sagt Anna Goletti. Zwar wolle sie nicht sagen, dass sie und ihr Mann damals schon Deutsche geworden waren, „aber wir konnten uns zu Hause irgendwie nicht mehr so richtig einleben“. Und die Schönheit des Landes? Sie winkt nur ab und verweist lakonisch auf die Realitäten in der Po-Ebene: „Nur Nebel und Mücken.“ Sie scheint selbst ein bisschen erstaunt zu sein über ihr harsches Urteil. Sie weiß, kein Deutscher würde derart unromantisch über „Bella Italia“ reden.


Das zweite Mal ging Stefano dann 2015 nach Deutschland, es gab ein weiteres Angebot von der Festo-Zentrale. Er sagte sofort zu. Dass Anna mitkommen würde, stand außer Frage. Sie fand Arbeit als Lehrerin beim Deutsch-Italienischen Kulturverein in Stuttgart. Alles passte. Sie erinnert sich an Kursstunden, bei denen ihre Schüler sie mit Fragen zu Silvio Berlusconi und dessen Bunga-Bunga-Partys löcherten. Einen kurzen Moment wirft Anna Goletti einen nachdenklichen Blick vom Balkon in den Vorgarten. „Das war natürlich extrem peinlich.“

Bis auf die Espresso-Kocher in der Küche und ein Sofakissen mit dem Motiv eines original Fiat 500 („selbst genäht von meiner Schwiegermutter“) befindet sich nichts in der Wohnung, was als typisch italienisch bezeichnet werden könnte. Nur die Möbel stammten aus Italien, sagt Anna. Moderne Stücke. Tisch, Stühle, Sofa: alles aus Holz. Eher nüchtern.

Wie italienisch ist das Paar eigentlich noch? Beide mögen Deutschland, beide leben seit Jahren und gerne vor den Toren Stuttgarts und wollen sogar für immer bleiben. Und dazu bekennen beide offen, sie seien weder Tifosi – sie verstehen nichts von Fußball – noch Ferraristi, sie interessieren sich auch nicht für Sportwagen oder Formel-1-Rennen. Dass es so was gibt! Stefano Gastoni kommt, was die nationalen Eigenheiten betrifft, zu einem klaren Urteil. „Wir sind sicherlich keine typischen Italiener.“ Seine Frau widerspricht nicht.

Die Garagentor-Geschichte

Dann erzählt Anna Goletti noch die Geschichte mit dem Garagentor. Das Paar besitzt in Pavia ein Häuschen in einer Reihenhaussiedlung. „Da waren immer Probleme, dauernd gab es Krach, niemand hat sich gekümmert.“ Zum Beispiel schossen die Jungs beim Fußballspielen immerzu auf das Garagentor. Das habe nicht nur furchtbar Krach gemacht, zudem drohte das solcherart malträtierte Garagentor ernsthaft Schaden zu nehmen. Für einen Moment weiß der Besucher nicht so recht, was Anna Goletti mit dieser Geschichte sagen will. Dann bricht es aus ihr heraus: „So etwas geht doch einfach nicht. So etwas würde hier in Ruit nicht passieren.“

Stefano Gastoni kann aus seiner Arbeitswelt Geschichten über die unterschiedliche Alltagskultur von Deutschen und Italienern erzählen. Zum Beispiel bei der Frage, wie in einem Unternehmen Gespräche, Treffen und Beratungen organisiert werden. Wenn in Italien ein Arbeitnehmer ein Problem habe oder einen Vorschlag machen wolle, gehe er zunächst ganz spontan zu einem Kollegen und schildere diesem den Fall. In Deutschland sei das in der Regel anders: Der Arbeitnehmer schreibe eine E-Mail an mehrere Kollegen, die das etwas angehen könnte, und schlägt ein gemeinsames Treffen vor. „Das italienische Vorgehen ist direkt und spontan“, sagt Stefano Gastoni, „es kann aber auch dazu führen, dass die Italiener den ganzen Tag diskutieren und keine richtige Arbeit leisten.“ Das deutsche Vorgehen sei in aller Regel effizienter, weil Zeitverluste durch mehrfache Termine unter vier Augen vermieden werden.

Jede Methode habe ihre Vor- und Nachteile, sagt seine Frau. „Die italienische Variante kostet zwar mehr Zeit, aber dafür sind unerwartete Fragen und Vorkommnisse weniger ein Hindernis. Es ist dann nicht so ein Drama, wenn etwas Neues hinzukommt.“

Szenenwechsel: Die Eltern haben den kleinen Leonardo auf einem Dreirad zum nahe gelegenen Spielplatz geschoben. Es ist ein sonniger Herbsttag, aber Leonardo will nicht runter von seinem Dreirad. Als die Mutter ihn auf den Arm nehmen will, beginnt er zu greinen und zu strampeln. Sofort setzt sie ihn wieder zurück auf das Gefährt, Leonardo beruhigt sich schnell.


„Un maschio“, ein Junge, lautet der sprichwörtliche Freudenschrei vieler Mütter nach der Geburt. Verwöhnen Italiener ihre Kinder zu sehr? Und behandeln sie kleine Jungs in der Regel nachsichtiger als kleine Mädchen? Anna Goletti denkt einen Augenblick nach, erzählt gleich mehrere Geschichten aus ihrer Familie, die genau in dieses Raster passen. „Na ja, ein maschio ist schon etwas Besonderes“, sagt sie dann. Leonardo ist unterdessen wieder guter Dinge und lässt sich zufrieden nach Hause schieben. Auch eher untypisch: Er ist nicht getauft. Und geheiratet haben Anna und Stefano erst, als das Kind kam. „Vorher war uns das nicht wichtig“, sagt er.

Was gefällt ihnen nicht an Deutschland? Anna Goletti zögert eine ganze Weile, dann formuliert sie bedächtig: „Na ja, die Autobahnbaustellen. Das kann doch nicht immer so sein. Es muss doch auch irgendwann mal genug sein damit.“ Hier, das steht fest, spricht sie Millionen Deutschen aus der Seele.

Anna kennt die Sehnsucht der Deutschen nach dem Süden, der Sonne und dem Heiter-Ungeordneten, dem „Dolce far niente“, dem süßen Lebensgenuss. Ja, mitunter vermisse sie die Leichtigkeit, das kurze Plaudern in der Café-Bar, die Unbeschwertheit ihres Heimatlands. Liebt sie Deutschland? Jetzt antwortet sie nicht. Dann fragt ihr Mann: „Liebst du Italien?“ Anna sagt: „Ich liebe es, in Deutschland Italienerin zu sein. Ich fühle mich hier sogar noch mehr als Italienerin.“