In Stuttgart kommt es rund um das Bundesligaspiel zwischen dem VfB Stuttgart und Hertha BSC zu so schweren Ausschreitungen, dass ein Polizist zur Waffe greift. Die Polizei-Gewerkschaft schlägt Alarm.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Stuttgart - Es ist gerade einmal zwei Wochen her, da wurden die Fans des VfB Stuttgart bundesweit für ihre Fairness gefeiert. Nach der Niederlage gegen Borussia Dortmund sind die Spieler nicht ausgepfiffen, sondern von den Anhängern in der Cannstatter Kurve in den Arm genommen und getröstet worden. Als vorbildlich und als angenehme Abweichung von der Fußballregel wurde dieses Verhalten sogar noch in englischen, amerikanischen und australischen Medien gewürdigt.

 

Nach dem 0:0 des VfB gegen Hertha BSC am Freitagabend ist von der heilen Stuttgarter Fanwelt keine Rede mehr. Jetzt geht es um den Stuttgarter Mob. Und in der „Welt am Sonntag“ sagt der deutsche Polizei-Gewerkschaftsvorsitzende Rainer Wendt: „Ich habe das Gefühl, dass erst reagiert wird, wenn es den ersten Toten gibt.“ Und diese Situation könne er jetzt nicht mehr ausschließen.

Stuttgart ist plötzlich nicht mehr Vorbild, sondern könnte nun vielmehr Vorbote sein für eine womöglich dramatische Entwicklung in der Fußball-Bundesliga, wo die Brutalität nach Jahren der familienfreundlichen Wohlfühlatmosphäre wieder auf dem Vormarsch zu sein scheint. Die Stuttgarter Ereignisse vom Freitagabend und die Angriffe auf den TV-Reporter Marcel Reif in der Woche zuvor (die StZ berichtete) stützen diese These.

Die Situation eskaliert in der Eisenbahnstraße

Die Stimmung rund um die Partie zweier Abstiegskandidaten war schon vor Beginn sehr aggressiv und entlud sich dann nach Spielende auf dramatische Weise. 80 Stuttgarter Hooligans entdeckten gegen 23 Uhr in der Eisenbahnstraße zwei Beamten, die vor ihrem Einsatzwagen standen. Im Laufschritt von der König-Karl-Straße kommend, so ein Sprecher der Polizei, sei die Gruppe mit Holzlatten, Eisenstangen, Flaschen und Steinen bewaffnet auf die Beamten zugekommen. „Die Situation wurde immer bedrohlicher, nachdem Flaschen und Steine geworfen wurden“, so der Polizeisprecher. Als die Beamten am Kopf getroffen wurden und bluteten, gab einer von ihnen mit der Dienstwaffe drei Warnschüsse in die Luft ab, wodurch Bundespolizisten in der Nähe alarmiert wurden. Die Angreifer flüchteten.

Schüsse am Rande eines Fußballspiels in Deutschland – damit ist tatsächlich eine ganz neue Dimension im Sport erreicht, was auch entsprechende Ermittlungen nach sich ziehen wird.

Dies war aber nicht die einzige Gewaltszene an diesem Abend, in dessen Verlauf insgesamt zwölf Polizisten verletzt wurden, von denen einer im Krankenhaus am Kopf genäht werden musste. Festnahmen gab es allerdings keine, was auch Fragen aufwirft. War die Polizei nicht hinreichend auf die Partie vorbereitet, deren Brisanz bekannt sein musste? Schließlich pflegen die Hertha-Anhänger eine Fan-Freundschaft mit den Fans des Karlsruher SC, die wiederum ein äußerst angespanntes Verhältnis zu den VfB-Unterstützern haben. „Wir waren personell gut aufgestellt“, heißt es von Seiten der Polizei.

Heikle Situation in der S-Bahn

Kritik am Vorgehen der Beamten wurde unter anderem von VfB-Fans laut, die mit der S 1 aus Herrenberg zum Spiel fuhren. Am Bahnhof in Bad Cannstatt wurden gegen 19.45 Uhr offenbar gewaltbereite KSC- und Hertha-Fans von der Polizei in diesen Zug gedrängt, um sie eine Station weiter bis zum Neckarpark zu befördern. Es habe in der Bahn eine extrem aggressive Stimmung geherrscht, die jederzeit hätte eskalieren können, haben Leser der Stuttgarter Zeitung mitgeteilt.

Auch die Polizei wird kritisiert

Zu diesem Vorfall bezieht die Polizei so Stellung: „Stuttgarter Hooligans haben die am Cannstatter Bahnhof aussteigende Gruppe in der Daimlerstraße erwartet. Um dort eine Eskalation zu vermeiden, wurden die Fans aus Karlsruhe und Berlin wieder zurück in S-Bahn geleitet.“ In dieser S-Bahn seien dann zur Sicherheit auch Beamte der Bundespolizei bis zum nächsten Halt Neckarpark mitgefahren. Die Stuttgarter Hooligans hätten dann ihre Aggression vor dem Spiel gegen parkende Autos gerichtet und nach der Partie gegen die Polizei, die jetzt ermittelt.

Diese Ermittlungen will der VfB Stuttgart abwarten, bevor er möglicherweise auch selbst tätig wird. „Erst danach können wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen“, sagt ein Clubsprecher. „Klar ist aber, dass es für uns absolut inakzeptabel ist, wenn Menschen am Rande eines Fußballspiels zu Schaden kommen.“

Ob bei den polizeilichen Ermittlungen etwas herauskommt, dürfte allerdings fraglich sein. Wenn es denn Videoaufnahmen von den Straftaten gibt, dürften die schwer auszuwerten sein. So ist es vermutlich kein Zufall, dass die Ausschreitungen bei einem Abendspiel stattfanden, wo die Täter im Schutz der Dunkelheit agieren konnten. Was die Frage mit sich bringt, warum ein heikles Spiel am Freitag um 20.30 Uhr ausgetragen wird. In England wäre eine solche Ansetzung jedenfalls undenkbar.