Wenn wir der AfD nicht weiter neue Wähler bescheren wollen, sollten wir die Aufregung um die Randale der Neonazis niedriger hängen, meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Das Wort kam aus zartem Frauenmund, doch es wirkte wie ein Paukenschlag. Kellyanne Conway heißt das blonde Wesen, das von „alternativen Fakten“ sprach, um zu vertuschen, dass zur Amtseinführung ihres Präsidenten, dem sie als Wahlkampfstrategin diente, weit weniger Menschen gekommen waren als zum Auftakt der Ära des Vorgängers Barack Obama. Die Bilder der Fernsehkameras erzählten zwar etwas anderes. Im Weißen Hause scherte das niemanden. Doch die Lesenden der freien Welt verstanden sofort, dass hier eine kassandrische Prophezeiung aus dem zwanzigsten Jahrhundert Wirklichkeit geworden war.

 

Nicht 1984, wie George Orwell es 1948, nach Hitlers Untergang und zur Blütezeit des Stalinismus, in seinem berühmten Zukunftsroman beschrieb. Nein, jetzt erst, 2017, war es nach Jahren der Freiheit auch im Westen so weit. Die Beraterin des amerikanischen Präsidenten gebärdete sich wie eine Posaune aus Orwells Wahrheitsministerium, zu dessen Parolen es gehörte, dass Krieg Frieden sei und Freiheit Sklaverei.

Und das ausgerechnet in den Vereinigten Staaten, der ältesten unter den modernen Demokratien, die uns Deutschen nach dem Rückfall in die nationalsozialistische Barbarei demokratisch auf die Beine geholfen hat. Viele Amerikaner können diesen Abstieg nicht fassen, wie die Feierlichkeiten zum Tode des ehrbaren Senators John McCain in der letzten Woche bewiesen haben.

Und wer den guten alten George Orwell gelesen hat, holt ihn vielleicht noch einmal aus dem Bücherschrank und sieht entsetzt, wie die fantasierte Zukunft plötzlich Gegenwart geworden ist. Gleich auf den ersten Seiten erfährt man von der regelmäßig stattfindenden Hasswoche, und abends erscheint dann auf dem Bildschirm das hassverzerrte Gesicht des Donald Trump, der seine Freunde in bösen Worten zerfetzt. Ein begeisterter Hasser.

Zu viel mediale Aufmerksamkeit treibt der AfD neue Wähler zu

Big Brother. Wenn er könnte, wie er will, wäre er dem literarischen Vorbild noch ähnlicher, als er es ohnehin schon ist, ein Geselle im Handwerk der totalen Herrschaft. Von all dem Schrecklichen, das dies bedeutet, wissen wir Deutschen ein besonders grausiges Lied singen. Hier hat man beides erlebt. Wir hatten den Großen Bruder, das Wahrheitsministerium des Joseph Goebbels und die benebelten Massen. Wir wollen es nicht wieder haben.

Erlebt dieses Unheil nun dennoch in Sachsen eine Wiederauferstehung? Marschiert da schon wieder die SA durch deutsche Straßen? Ist Chemnitz Weimar? Kennen wir das nicht: die Glatzköpfe, die Stiernacken, das Stiefelknallen, die hassverzerrten Gesichter, das primitive Geschrei? Ja, wir erinnern uns. Und die Vorstellung ist keinesfalls aus der Welt, dieser Mob könnte politische Macht erringen, könnte die AfD hochtragen, die da mitmarschiert. Und doch: Diesen Leuten fehlt ein Big Brother, weshalb sie den Unsäglichen aus der wurmstichigen Schublade holen und den rechten Arm in die Luft strecken.

Ihr Führungspersonal erscheint mehr seltsam als bedrohlich: der kauzige Björn Höcke, der alte Alexander Gauland, die fanatische Alice Weidel. Außerdem halten der Staat und alle großen Organisationen dagegen – Gewerkschaften, Kirchen, Sozialverbände, die Städte, die Gemeinden und gewiss auch die Mehrheit der Zivilgesellschaft.

Deshalb sollten wir diese Ausfälle etwas niedriger hängen, sollten nicht in fast jeder Nachrichtensendung damit aufmachen, nicht immer wieder die Titelseiten dafür bereitstellen, nicht vorgeben, diese Dumpfbacken seien unser größtes Problem.

Die Aufmerksamkeit, die sie in diesen Tagen genießen, macht sie nur wichtig und groß, gaukelt vor, dass sie etwas Besonderes seien, dass sie etwas bewirken können, und treibt so der AfD neue Wähler zu. Mediale Aufmerksamkeit ist das Gold unserer Zeit. Wir sollten die Radikalinskis und ihre Mitläufer nicht kleinreden. Wir sollten sie aber auch nicht aufwerten.

Die Chemnitzer Straßennazis sind nicht die einzigen Feinde

Ganz abgesehen davon sind die Chemnitzer Straßennazis auch nicht die einzigen Feinde unserer wunderbaren bundesrepublikanischen Ordnung. Da haben wir noch die gewalttätigen Chaoten auf der Linken, die beim G-20-Gipfel in Hamburg gezeigt haben, wozu sie fähig sind. Und ein paar heimlich totalitäre, aber moralisch daherkommende Tendenzen geben ebenfalls zu denken. In Orwells Zukunftsroman tauchen sie als Sprachpolizei des Staates auf.

Heutzutage haben die Sittenwächter ihren Ursprung in Nischen der Gesellschaft, machen sich jedoch sichtbar darüber hinaus breit und terrorisieren den großen Rest. Sie wittern Herabsetzung von Minderheiten hier und da und überall, bekämpfen Sexismus, auch wo keiner auszumachen ist; sie wollen die Bibel gerecht umschreiben, wollen Martin Luther, unseren Sprachpapst, moralisch aufnorden, wollen Kinderbücher von unkorrekten Namen säubern und die Unterschiede der Geschlechter wenigstens in Worten einebnen.

Vergleichbares ebenfalls nachzulesen beim hellsichtigen George Orwell, in dessen Zukunftsgesellschaft Shakespeare „übersetzt“ werden muss, bis er in die neue Zeit passt. Auch vor solchen, die Freiheit bedrohenden Auswüchsen dieser und jener Moral mit totalem Wahrheitsanspruch sollten wir uns hüten.