Der Tod eines jungen Afro-Amerikaners hat in der US-Stadt Baltimore schwere Unruhen ausgelöst. Jetzt sollen 5000 Mann der Nationalgarde für Ruhe und Ordnung sorgen.

Baltimore - Anthony Mills ist nicht zu verstehen. Er steht an der Ecke von der Monroe Street zur North Avenue und will einen Punkt machen. Aber da ist dieser junge Mann, der die ganze Szene noch bizarrer macht als sie schon ist. Rechts steht eine Wand aus Polizisten in voller Montur, ihr gegenüber formiert sich eine Gruppe vermummter Jugendlicher, daneben stehen Anwohner und machen Fotos mit Handys, ein paar hundert Meter entfernt brennt ein Auto, Müll liegt auf der Straße, es riecht verkohlt. Und der junge Mann tanzt mitten auf der Straße zu Michael Jacksons „Man in the Mirror“. Für einen Moment sind die Unruhen in Baltimore Nebensache. Alle schauen auf den Tänzer.

 

Mills, kariertes Jackett und gelbe Fliege, geht ein paar Schritte, um verstanden zu werden. Nun kann er seinen Punkt machen. „Wer glaubt, das hier sei eine Sache von Schwarzen gegen Weiße, der täuscht sich gewaltig“, sagt der hochgewachsene Afro-Amerikaner. „Das hier ist das Ergebnis von Jahrzehnten der Vernachlässigung und des Zerfalls.“ In dem Moment kommen ein paar Vertreter der vernachlässigten Generation um die Ecke, sie haben Flaschen in der Hand. Mills, der in dem Stadtviertel aufgewachsen ist, spürt, dass sich da etwas zuspitzen könnte. „Lassen Sie uns lieber weitergehen“, sagt er mit heiserer Stimme.

In der Nacht zu Dienstag erfährt der 48 Jahre alte Mills, der für eine Streetworker-Organisation in Baltimore arbeitet, dass jahrelange Arbeit mit den Unterprivilegierten binnen Stunden zunichte gemacht werden kann. In Baltimore, das 70 Kilometer nordöstlich von Washington liegt, tobt an diesem Abend der Mob. Eine Drogerie und Läden werden geplündert. Ringsum sind Jugendliche zu sehen, die Hände voller Flaschen, Kosmetika und Lebensmitteln, wie sie in den USA in Drogerien verkauft werden. Streifenwagen werden mit Steinen beworfen, Geldautomaten aus der Wand gerissen, Häuser gehen in Flammen auf. Vermummte durchschneiden Schläuche der Feuerwehr im Einsatz. Später wird gemeldet, dass ein kirchliches Seniorenheim in Flammen stehe. Ob der Brand mit den Krawallen in Verbindung steht, ist unklar. Aber ein Anwohner raunt: „Das ist ja wie im Krieg.“

Die Bürgermeisterin versucht die Fassung zu bewahren

„Das ist ein dunkler Tag für unsere Stadt“, sagt Baltimores Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake am Abend. Die Afro-Amerikanerin, die sich sichtlich bemüht, vor den Kameras Fassung zu bewahren, verhängt eine Ausgangssperre. Eine Woche lang dürfen die Bürger nach 22 Uhr nicht mehr auf die Straße. 5000 Nationalgardisten sollen dafür sorgen, dass die Anordnung eingehalten wird. Baltimore, das den Beinamen „Charm City“ trägt, wird wie ein Militärlager aussehen.

Die Unruhen beginnen am Montagnachmittag. Aber dass Schlimmes droht, hat sich für Mills, den Kenner des Viertels, schon vor zwei Wochen angedeutet. Am 12. April wird der 25 Jahre alte Freddie Gray, ein Afro-Amerikaner, in Baltimore von der Polizei festgenommen. Ein Video eines Passanten zeigt, dass die Polizisten den Mann zu einem Streifenwagen schleifen. Kurz darauf wird Gray in ein Krankenhaus eingeliefert, fällt ins Koma und stirbt eine Woche später an einer Verletzung des Rückenmarks. Noch ist unklar, ob die Behandlung durch die Polizei verantwortlich für Tod des jungen Mannes ist. Weder Polizei noch Stadt haben es bislang vermocht, einen Untersuchungsbericht vorzulegen. Doch viele Menschen an diesem Abend sind von der Schuld der Polizei überzeugt. „Schlimmer als einen Hund haben sie Freddie behandelt“, sagt ein Mann und schnaubt vor Wut. Der Sozialarbeiter Mills ist enttäuscht und ernüchtert: „Warum nur machen die ihre eigene Nachbarschaft kaputt? Ich glaube, sie können ihren Frust nicht anders ausdrücken.“ Mills‘ Theorie wird von den Geschehnissen untermauert. Viele fühlen sich an Ferguson erinnert, andere an die Krawalle von 1968, als Martin Luther King ermordet wurde und Baltimore eine Woche lang brannte.

Am Montagmittag gibt es eine Trauerfeier für Freddie Gray in der New Shiloh Baptist Church. 3000 Menschen nehmen teil. Gleichzeitig, so die Polizei, wird im Internet an die Schüler der Stadt appelliert, eine sogenannte „Purge“ (Säuberung) zu veranstalten. Tatsächlich gehen die Krawalle los, als die Trauerfeier beendet ist. Hunderte von Teenagern ziehen durch die Straßen und toben sich aus. Gerüchte, Gangsterbanden seien die wahren Auftraggeber der Krawalle, bestätigen sich zwar bislang nicht. Aber in der aufgeheizten Stimmung werden auch solche Parolen schnell zur Wahrheit.

In manchen Vierteln ist jeder zweite ohne Job

Anthony Mills hat sich zu einer Straße mit besonders abgewrackten Häusern durchgeschlagen. „So sieht es hier aus“, erklärt er und zeigt auf mit Brettern vernagelte Fenster: „Da wundert es doch nicht, wenn Jugendliche glauben, sie könnten sich nicht anders helfen.“ Baltimore, sagt Mills, sei wie viele Städte in den USA. Die Stadtverwaltung, ob sie nun aus Afro-Amerikanern oder Weißen bestehe, stecke viel Geld in die Zentren, um die Touristen anzulocken. So sei der innerstädtische Hafen von Baltimore zum Schmuckstück geworden. „Doch viele Viertel werden vernachlässigt. Es gibt kein Geld für Renovierungen, und ständig wird an der Bildung gespart“, sagt Mills. Im Westen der Stadt ist in manchen Vierteln jeder zweite ohne Job.

Vor der Kirche, in der die Trauerfeier für Freddie Gray stattgefunden hat, steht Antonio Hayes. Er ist Abgeordneter im Parlament von Maryland und soll nun sagen, was er von den Krawallen hält. Erst sagt Hayes, er habe trotz aller Wut und Gewalt auch Positives gesehen. „Junge Leute haben anderen jungen Leuten gesagt, sie sollten aufhören.“ Dann aber geht 150 Meter von Hayes entfernt ein Auto in Flammen auf. Und der Abgeordnete sagt nur noch: „Mann, sie kennen offenbar keinen anderen Weg.“