Samstagnacht verbreiten sich zahlreiche Videos der Ausschreitungen auf Instagram und Twitter. Die Kommunikationswissenschaftlerin Diana Rieger sieht das Geltungsbedürfnis auf Social Media nicht als Auslöser der Randale.

Stuttgart - Oberbürgermeister Fritz Kuhn sprach am Sonntag bei einer Pressekonferenz von einem Drang zur Selbstinszenierung in den sozialen Medien, der unter anderem zu den Ausschreitungen geführt hätte. Die Kommunikationswissenschaftlerin Diana Riegers forscht an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München zur Wirkung von Medien, digitaler Kommunikation und Medienpsychologie. Sie ordnet die Vorgänge in der Krawallnacht anders ein.

 

Frau Rieger, wie bewerten Sie die Aussage Kuhns, dass der Wille zur Selbstinszenierung in den sozialen Medien eine Ursache der Gewalt gewesen sei?

Aus meiner Perspektive ist hier die Kausalität verdreht. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass Ausbrüche von Gewalt damit einhergehen, die Taten in Social Media kundzutun oder sich dort im Anschluss feiern zu lassen. Ich würde nicht so weit gehen und sagen, dass es ein Hauptmotiv für Gewalttaten ist.

Hat die Profilierung in den sozialen Netzwerken die Gewalttäter in Stuttgart möglicherweise angespornt?

Analysen aus der Extremismusforschung zeigen, dass Täter vor oder nach Terroranschlägen ihre Taten online zur Schau stellen. Anreizsysteme in extremen Gruppen funktionieren durchaus so, dass Täter für auf Social Media generierte Aufmerksamkeit gefeiert werden.

Hat das ständige Filmen der umherstehenden Menge die Randalierer aufgeheizt?

Ich würde die Geschehnisse in Stuttgart aber am ehesten mit sozialpsychologischen Gruppenphänomenen erklären. Solche Dynamiken können zudem durch den Konsum von Alkohol verstärkt werden. Die Gewalttäter in Stuttgart könnten sich aber auch von der umherstehenden Menge und den filmenden Smartphonekameras motiviert gefühlt haben.

Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz sagte, dass aggressives Verhalten gegen die Polizei auf Social Media in der jüngeren Vergangenheit verstärkt dokumentiert und gefeiert wird.

Da kommen zwei Dinge zusammen: ein negatives Bild der Polizei, das zur Zeit von den USA auf uns überschwappt, und der Eindruck einer Mehrheit, die in sozialen Medien sehr aktiv postet, die quantitativ aber keine Mehrheit sein muss.

Wie beeinflussen soziale Netzwerke die Bereitschaft zu realer Gewalt?

Diese Frage ist noch nicht besonders gut erforscht. Es zeigt sich aber, dass polarisierende Meinungen in Social Media eher von solchen Menschen aufgesucht und vertreten werden, die sowieso schon bestimme extreme Voreinstellungen haben.

Sind Selbstinszenierung auf Social Media und dadurch angeregte reale Gewalt ein wachsendes Problem unter jungen Leuten?

Nein, dazu sind mir keine Forschungsergebnisse bekannt. Ich sehe keine Hinweise, dass es sich um ein zunehmendes Phänomen der jüngeren Generation handelt. Ich beobachte eher, dass sich durch soziale Medien insgesamt wieder mehr Protestbewegungen abzeichnen und das ist ja durchaus auch positiv zu bewerten. Jüngere Menschen finden eine neue Art der politischen Anteilnahme auch über Social Media, prominente Beispiele sind Fridays for Future aber auch die Black-Lives-Matter-Bewegung.