Angela Merkel als Zeugin zum „schwarzen Donnerstag“ – das wollten Mappus’ Beamte offenbar verhindern. Grund der Sorge: Am Abend hatte das Kanzleramt in Stuttgart Mappus’ Telefonnummer erfragt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Anruf aus der Hauptstadt kam am Abend eines turbulenten Tages. Stundenlang hatte am 30. September 2010 im Schlossgarten eine Schlacht zwischen Stuttgart-21-Gegnern und der Polizei getobt. Nur mit Wasserwerfern, Pfeffergas und Schlagstöcken gelang es der Staatsmacht, das Gelände für das geplante Grundwassermanagement zu räumen. Mehr als hundert Menschen wurden verletzt. Gleich nach Mitternacht sollten die ersten Bäume fallen. Da meldete sich im Lagezentrum des baden-württembergischen Innenministeriums ein Kollege aus einem anderen Lagezentrum: dem des Bundeskanzleramtes in Berlin. Sein Anliegen: Man benötige die Telefonnummer von Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU). Der Wunsch wurde wohl erfüllt, der Vorgang ordnungsgemäß dokumentiert.

 

Knapp acht Wochen später bereitete der Anruf führenden Beamten in Mappus’ Staatsministerium gewaltiges Kopfzerbrechen. Das Telefonat sei in Unterlagen vermerkt, die man dem inzwischen eingesetzten Untersuchungsausschuss zum „schwarzen Donnerstag“ geben müsse, berichtete der zuständige Referatsleiter Michael Pope einer Justiziarin. Sie solle unbedingt prüfen, ob die Opposition nun die Bundeskanzlerin als Zeugin vor das Gremium laden könne. Immerhin konnte man aus der Anfrage auf einen Kontakt zwischen Mappus und Merkel schließen.

Vorsorge erwies sich als überflüssig

Die Antwort an Pope und in Kopie an den Abteilungsleiter Michael Kleiner fiel nur halbwegs beruhigend aus: Es komme auf die konkrete Begründung eines möglichen Beweisantrages an. Vorsorglich wies die Beamtin schon mal zwei Auswege: Da ein etwaiges Gespräch zwischen Kanzlerin und Ministerpräsident erst am Abend stattgefunden habe, gehöre es vielleicht nicht mehr zum Auftrag des Ausschusses, die Planung und den Einsatz selbst zu durchleuchten; dieser sei schließlich schon weitgehend abgeschlossen gewesen. Der Versuch, möglichen Kontakten zu Merkel vor dem 30. September nachzugehen, lasse sich wahrscheinlich als verbotene Ausforschung abwehren. Überhaupt gehe das Handeln der Bundesregierung den Landtag nichts an.

Die Vorsorge sollte sich als überflüssig erweisen. Die unscheinbare Telefonnotiz ging wohl an den Ausschuss, im Zuge einer Nachlieferung von Akten; entsprechende Angaben Popes bestätigte am Abend das Innenministerium. Doch in der damals herrschenden Hektik wurde sie offenkundig übersehen. Die CDU habe einen enormen Zeitdruck aufgebaut, klagte der frühere SPD-Obmann Andreas Stoch.

Merkels Bekenntnis zu Stuttgart 21

Die Scheu vor der Zeugin Merkel war verständlich. Erst Mitte September hatte sich die Kanzlerin unerwartet klar für das Bahnprojekt eingesetzt. Bei ihrer Haushaltsrede wandte sie sich gegen eine Bürgerbefragung zu Stuttgart 21 und erklärte „genau die Landtagswahl“ im März 2011 zur Abstimmung darüber. Man werde „eine große Debatte über die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“ führen. Koalition und Opposition applaudierten erfreut, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.

Aus der Südwest-CDU verlautete, man sei für das Bekenntnis „sehr dankbar“. Doch in die Begeisterung mischte sich auch Sorge. War es klug, dass die Kanzlerin ihr Schicksal gleichsam mit Stuttgart 21 und Mappus verband? Bis dahin war nie eine besondere Nähe zwischen den beiden höchst unterschiedlichen Politikertypen aufgefallen; womöglich hatte Merkel nicht mal seine Handynummer zur Hand. Nahe standen ihr dagegen Mappus’ Freunde und Fürsprecher in Berlin, Volker Kauder, Annette Schavan oder Tanja Gönner.

Unbekanntes Treffen mit Bahnchef Grube

Das Thema Stuttgart 21 hatte Merkel freilich schon früher entdeckt, wie der StZ vorliegende, bisher unbekannte Vermerke aus dem Kanzleramt belegen. Die Regierungszentrale schickte diese – in weiten Teilen geschwärzt – an zwei Bürger aus Baden-Württemberg, die auf der Grundlage des wenig bekannten Umweltinformationsrechts Akteneinsicht verlangt hatten. Sie zeigen, dass Merkel seit Mitte August mehrfach persönlich über das Bahnprojekt informiert wurde. Worüber genau, blieb im Dunkeln, weil jeweils nur kurze Passagen zu den Bäumen lesbar geblieben waren.

Der verdeckte Text wird den neuen Ausschuss brennend interessieren. Schon im alten war schließlich die Frage nach einer möglichen Rolle Merkels aufgekommen. Besondere Beachtung dürfte ein „Gesprächsführungsvermerk“ vom 23. September an die „Frau Bundeskanzlerin“ finden. Er galt einem bisher unbekannten Kontakt zwischen ihr und dem Bahnchef Rüdiger Grube am Tag darauf, sechs Tage vor dem damals bereits fest stehenden Einsatztag. Von drei Seiten blieben nur wenige Zeilen lesbar: Der Protest in Stuttgart, hieß es darin, konzentriere sich „auf die bevorstehende Fällung von 280 Bäumen im Schlossgarten“. Außerdem war von den 5000 neuen Bäumen die Rede. Das Gespräch mit Grube habe tatsächlich stattgefunden, und zwar im Kanzleramt, bestätigte eine Berliner Regierungssprecherin der StZ; über den Inhalt von Gesprächen der Bundeskanzlerin werde aber generell nichts veröffentlicht.

Kanzleramt schweigt zu Kontakt

Ob es am Abend des 30. September tatsächlich einen Kontakt Mappus-Merkel gab, wollte ein Regierungssprecher auf Anfrage nicht sagen. Die Anfrage des Lagezentrums im Kanzleramt nach der Telefonnummer sei dort „nicht erinnerlich“ und auch nicht dokumentiert. „Bei den Polizeimaßnahmen handelte es sich um eine Länderzuständigkeit“, betonte der Sprecher. „Es gab keine Einbindung des Bundeskanzleramtes oder der Bundeskanzlerin.“

Nach der blutigen Räumung geriet die Regierungschefin prompt ins Visier der Opposition. „Es ist auch Merkels Einsatz, wenn jetzt Schlagstöcke und Reizgas gegen Schülerinnen und Schüler eingesetzt werden“, befand die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast. Die so Attackierte vermied eine direkte Stellungnahme. „Ich wünsche mir, dass solche Demonstrationen friedlich verlaufen“, sagte sie; es müsse „alles vermieden werden, was zu Gewalt führen kann“. Ihr Sprecher Seibert fügte noch hinzu, selbstverständlich habe Merkel große Sympathie für Menschen, die ihr Recht auf freie Meinungsäußerung nützten. Damit war das heikle Thema für die Kanzlerin glimpflich beendet; beim Untersuchungsausschuss in Stuttgart schaute alles nur auf Mappus und seine Ministerriege. Beim nächsten Mal könnte das anders sein.