Erst war Frank-Walter Steinmeier der Marathon-Mann, der das Blutvergießen in Kiew stoppte, dann schimpfte man ihn Russlandversteher. Er zeigt sich davon wenig beeindruckt und macht das, was er am besten kann: einfach weiter.

Budapest - Im ungarischen Außenministerium haben sie unter einer Plexiglashaube ein seltsames, durchsichtiges Ding ausgestellt. Nicht Kugel und nicht Quader ist es. So geformt, dass es, einmal in Bewegung versetzt, angeblich stets in seine ursprüngliche Position zurückkehrt. Außenminister Frank-Walter Steinmeier würde dieses Werk eines Tüftlers sicher bemerkenswert finden, wenn er denn Zeit hätte, es zu betrachten. Denn er hat mit diesem Ding einiges gemein. Auch er ist in den vergangenen Tagen immer wieder auf den Ausgangspunkt seiner Bemühungen um eine Lösung der Krise in der Ukraine zurückgeworfen worden, musste immer wieder von vorn anfangen, manchmal auch auf der Stelle treten und sich dabei international allerhand gefallen lassen. Vor allem, dass er zu zögerlich auf Wladimir Putins Geltungssucht reagiere. Ein Russlandversteher sei er, ein Weichei, Sozi halt.

 

Und es stimmt ja auch: Russland hatte in Gestalt von Außenminister Sergej Lawrow in endlosen Gesprächsrunden mal in Genf und mal in Paris und mal am Telefon Steinmeier vorgeführt. Dieser hatte im Kreis seiner europäischen Kollegen den Ruf nach Sanktionen zunächst gedämpft, wollte lediglich drohen, um Zeit für Verhandlungen herauszuschlagen. Verhandelt hat Lawrow dann ja auch, mehrmals glaubte man sich einer Vereinbarung über die Bildung einer Kontaktgruppe zur Bewältigung des Krim-Konflikts nah, die noch lange keine Lösung bedeutet, aber doch diplomatische Spielräume eröffnet hätte. Aber Steinmeier hatte Lawrows Handlungsspielraum überschätzt. Das Sagen hat in Moskau allein Putin. Der sagte: „Njet!“

Er hat das Blutvergießen in Kiew gestoppt

Steinmeier musste von vorn anfangen, dieser schwere diplomatische Brocken war ihm auf dem Weg nach oben entglitten und den Hang hinuntergekullert. Am Wegesrand lästerten nicht wenige, die ihn kurz zuvor noch beklatscht hatten, als er nach einem spektakulären Verhandlungsmarathon gemeinsam mit dem Franzosen Laurent Fabius und dem Polen Radoslaw Sikorski in Kiew zumindest das Blutvergießen stoppen konnte und ganz nebenbei ein diplomatisch handlungsfähiges Trio gründete, dass sich vorgenommen hat, international noch von sich reden zu machen.

Schwer zu sagen, ob Steinmeier die Vorwürfe treffen. Beirren lässt er sich jedenfalls nicht, auch wenn seine Haltung Russland gegenüber deutlich härter geworden ist. Er bleibt aber seinem Prinzip treu, dass Reden besser sei als Schweigen und Verhandeln besser als Schießen. Und er steht zu seinem Versprechen, dass die deutsche Außenpolitik bereit sei, international mehr Verantwortung zu übernehmen, auch wenn die Bereitschaft zu führen stets das Risiko birgt, vorgeführt zu werden.

Die rastlose Krisendiplomatie Steinmeiers geht in Ungarn weiter

Deshalb ist er hier in Budapest. Draußen, vor dem Ministerium, plätschert der Frühlingstag träge wie die Donau seinem Ende entgegen, drinnen findet die rastlose Krisendiplomatie Steinmeiers ihre Fortsetzung. Sein unsteter Blick verrät, dass seine Gedanken in diesen Tagen selten an jenem Ort haften bleiben, an dem er sich gerade aufhält.

Auf dem Flug von Berlin nach Budapest: ein gut gelaunter Steinmeier Foto: dpa
Er hat den Visegrad-Staaten, dem Zusammenschluss der Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, kurzfristig ein Gespräch über die Lage in der Ukraine angeboten. Die Nachbarn Russlands mit ihrer sehr speziellen Erfahrung brutaler russischer Machtentfaltung reagieren gereizt auf die Annexion der Krim, sie forderten von Deutschland zuletzt eine härtere Gangart. Für Steinmeier Anlass genug, am Dienstag in die baltischen Länder und anschließend nach Ungarn zu reisen. Er will Verständnis für historisch begründete Ängste signalisieren – einerseits. Andererseits hat er sich aber auch vorgenommen, im internen Gespräch den Unterschied zwischen Wünschenswertem und Möglichem zu erklären.

Die Abhängigkeit von russischer Energie ist gigantisch

Den Diplomaten des Auswärtigen Amtes ist nicht entgangen, dass die lauten Rufe der Osteuropäer nach drastischen Sanktionen, die vor allem auf den heimischen Beifall zielen, nicht so recht zur ängstlichen Tonlage interner Gespräche passen. Denn nahezu alle Staaten des einstigen Ostblocks sind zu fast 100 Prozent von russischer Energie abhängig. Die Furcht vor den Konsequenzen der Sanktionen ist deshalb in Budapest, Prag und Vilnius womöglich sogar größer als der  Wunsch, sie durchzusetzen. Bremst Deutschland bei den Sanktionen, dann wäre dies so gesehen für die Osteuropäer in doppelter Hinsicht vorteilhaft. Zum einen würde man sich insgeheim freuen, dass die   Folgen russischer Gegenmaßnahmen überschaubar bleiben. Zum anderen könnte man vor heimischer Kulisse öffentlich den angeblichen Weichei-Kurs der Deutschen dafür haftbar machen, dass keine härteren Maßnahmen durchgesetzt wurden. Die Bundesregierung hat an diesem Doppelspiel gewiss kein Interesse.

Und noch etwas ist Steinmeier spätestens seit diesen Reisen klar. Sollte Putin den Gas- und Ölhahn tatsächlich zudrehen, sind die Augen des Ostens auf Deutschland gerichtet. Denn hierzulande befinden sich die größten Gasspeicher der EU. Die Solidarität, die im Baltikum und in Ungarn deshalb vorsorglich von Steinmeier eingefordert wird, dürfte deshalb im Ernstfall in Kubikmeter und Barrel zu messen sein.

Die schwerste Krise in Europa seit dem Fall der Mauer

Auf dem Flug von Berlin nach Budapest nutzt Steinmeier das Bordtelefon zu einer Konferenz mit US-Außenminister John Kerry, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, Frankreichs Außenminister Laurent Fabius und dem Schweizer Bundespräsidenten Didier Burkhalter, der zurzeit der OSZE vorsteht und als Chefvermittler in der von Steinmeier noch immer angestrebten Kontaktgruppe infrage käme. Optimistisch macht ihn das Gespräch aber nicht. Die Lage, die Steinmeier als schwerste Krise in Europa seit dem Fall der Mauer bezeichnet, wird, da ist er sich sicher, noch lange Zeit kritisch bleiben.

Steinmeier kämpft deshalb nicht nur in Osteuropa vor dem Referendum auf der Krim um eine gemeinsame europäische Linie. Am Montag soll der Rat der Außenminister in Brüssel eine Verschärfung der Sanktionen gegen Russland beschließen. Man ist dazu verdammt, mit einer Stimme zu sprechen, und Steinmeier will, dass diese Stimme weder zum ängstlichen Fiepen noch zum zahnlosen Brüllen verkommt. Andererseits soll Spielraum für schärfere Maßnahmen bleiben, falls Putin aufs Ganze geht und auch nach der Ostukraine greift. Eine Gratwanderung.

Einreiseverbote und Kontensperrungen

Es kommt nicht von ungefähr, dass noch keine Details über weitere Sanktionen bekannt sind. Einreiseverbote und Kontensperrungen soll es geben. Aber wen es trifft, wie weit man schon den engsten Kreis der Putin-Seilschaft belangen will, ist noch offen. Die Briten bangen um den bei den Oligarchen beliebten Finanzplatz London und fürchten um ihren Immobilienmarkt. In Italien, Spanien und Portugal ist Moskau weit und die eigene Wirtschaftskrise so nah. Dort hält man nichts von einem Handelskrieg, der den zarten Aufschwung zunichtemachen könnte.

Despoten haben es da einfacher. Sie müssen nur mit sich selbst klarkommen. In der EU müssen sich 28 Regierungen einigen, nach Möglichkeit eine gemeinsame Haltung mit den USA finden und diese dann den eigenen Wählern vermitteln. Putin wird darauf setzen, dass dies misslingt, so viel ist klar. Aber welches strategische Ziel Putin damit verfolgt, ob er überhaupt weiß, wohin die Reise gehen soll, ist die Frage, die wohl nicht nur Steinmeier am meisten umtreibt. Dem deutschen Außenminister geht es deshalb jetzt erst einmal darum, die EU zusammenzuhalten. Dann wird man sehen, wie Putin reagiert. Ob man wieder von vorn anfangen muss. Aber das kennt er ja schon, der Herr Sisyphos im Außenamt. Der kann das ab.