Wie holt man Neonazis aus der Szene? Die Berliner Initiative Exit versucht es – mit Erfolg.
Berlin - Bernd Wagner bekommt manchmal Komplimente, die keine sind. Dann sagen Klienten zu ihm: „Mit Ihnen zu reden ist, wie mit jemandem aus der Szene zu reden.“ Die Szene, das sind rechtsextreme Gruppen: NPD, Kameradschaften, Skinheads. Seine Klienten, das sind die, die aus der Szene rauswollen.
Bernd Wagner leitet Exit Deutschland, eine Aussteiger-Organisation für Neonazis mit Sitz in Berlin – die wohl erfolgreichste im Land. Seit der Gründung vor 13 Jahren haben Wagner und seine Mitarbeiter 487 Rechtsextremen beim Ausstieg geholfen. Und vielleicht haben diese Zahlen auch mit dem Kompliment zu tun, das Wagner zwar nicht mag, das ihm aber doch irgendwie schmeichelt. Denn es zeigt, dass er seinen Job ernst nimmt. Wagner – 57 Jahre, massiger Körper, grau gewellte Haare – ist studierter Kriminologe und hat sich schon in der DDR als Polizist mit dem damals aufkommenden Rechtsextremismus beschäftigt. 1991 schrieb er für Angela Merkel, die damals Familienministerin war, Dossiers zu dem Thema. Er hat die meisten nationalsozialistischen Theoretiker gelesen, „so viele waren es ja nicht“. Heute klickt er sich regelmäßig durch rechtsextreme Foren. „Feindpresse lesen“, so nennt er das.
Mit seiner Arbeit bewegt er sich zwischen allen Fronten. Linke Aktivisten nennen Wagner einen „Täterhelfer“, weil er mit Rechtsextremen redet. Rechtsextreme halten ihn für einen Agenten vom Verfassungsschutz, weil er mit Politikern redet. Und Politiker freuen sich zwar über den Verein, der ihnen die Arbeit abnimmt, wollen aber möglichst kein Geld für ihn ausgeben. Dafür haben sie Wagner zu einer Konferenz eingeladen. „Wir für Demokratie“ heißt die Tagung, die das Innenministerium und das Familienministerium organisiert haben. In einer alten Maschinenfabrik in Berlin-Mitte, die zu einem hippen Veranstaltungszentrum umgebaut wurde, treffen sich Aktivisten und Pädagogen aus dem ganzen Land. Viele Frauen mit rot gefärbten Haaren sind dabei. Manche haben sich schick gemacht, manche tragen Jutebeutel mit der Aufschrift „Hier kommt Engagement zum Tragen“. Es ist die Basis, die hier auf die Politik trifft, jene Menschen, die man sonst nur von bewilligten oder abgelehnten Projektanträgen kennt.
So viel Geld wie noch nie für die Prävention
Für Innenminister Hans-Peter Friedrich sind die Dinge an diesem Morgen einfach. Vor der Tür spricht er, bevor es losgeht, schnell noch staatsmännische Statements in die Fernsehkameras: „Wir müssen die Verbrecher dingfest machen.“ Und: „Wir müssen verhindern, dass junge Leute diesen Rattenfängern auf den Leim gehen.“ Wie das gehen soll, sagt er nicht.
Bernd Wagner sitzt in der vorletzten Reihe am Rand und guckt unbeeindruckt. Kristina Schröder lobt seine Arbeit. Sie sei stolz, dass ihr Haus nun die Finanzierung von Exit für die nächsten Jahre gesichert habe. Sie sagt nicht, dass sie und die anderen Minister wochenlang zögerten und Bernd Wagner in dieser Zeit schon Kündigungen schrieb. Und sie sagt auch nicht, dass die Regionalbüros, die Exit bis vor drei Jahren in Dortmund, Dresden, Fürstenwalde und Schwerin hatte, immer noch geschlossen sind. Sie redet von Toleranz und Engagement und davon, dass „alle Kräfte an einem Strang ziehen“ müssten, denn: „Aktive Bürgerbeteiligung ist das Immunsystem unserer Demokratie.“ Sie berichtet auch, dass ihr Ministerium so viel wie noch nie für die Prävention von Rechtsextremismus ausgibt: 24 Millionen Euro im Jahr.
In der Pause – die Minister sind schon längst weg – sagt Bernd Wagner, das Grundproblem sei dieses: Es gebe heute mehr Projekte denn je gegen Rechtsradikalismus. Es gebe aber auch mehr Rechtsextremismus. Viele Projekte, die als Prävention deklariert seien, hätten nicht viel mit Rechtsradikalen zu tun. Von der verbreiteten Theorie, man müsse Jugendliche nur beschäftigen, damit sie keine Nazis werden, hält er nichts. „Wenn wir schon Demokratie spielen, dann müssen wir sie auch richtig spielen.“ Mit einem Aussteiger hat er ein Jahr lang über Ahmadinedschad und dessen Judenhass geredet. Anderen Neonazis schreibt er Weltanschauungsbriefe und hofft, dass die sie zum Umdenken bringen, in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren.
Im Feuerwehrverein dachten alle rechts
Die Tagung in Berlin zeigt, was Wagner schon lange stört: dass Rechtsradikalismus oft nur als soziales Problem verstanden wird und nicht als Sicherheitsfrage – auch nach der Mordserie des NSU. Die Polizisten und Teile der Politik hätten, so Wagner, nicht verstanden, dass die Rechten einen „systemischen Krieg“ gegen die Gesellschaft führten. Exit hält dagegen – mit manchmal ungewöhnlichen Mitteln. Ein paar Tage nach der Tagung sitzt Wagner am Sonntagmorgen auf der Bühne eines Privattheaters. Gestern hatte hier, tief im bürgerlichen Westen der Stadt, eine Komödie Premiere. Jetzt will man über Nazis reden. Neben Wagner sitzt der Schauspieler Hardy Krüger. Der soll die Zuschauer animieren, für Exit zu spenden – und wenn man den Applaus als Indikator versteht, könnte das klappen.
Auch Steven Hartung sitzt auf der Bühne. Er hat den systemischen Krieg zwar nicht mit Waffen geführt wie der NSU, aber als „Szenesoldat“. So nennt Wagner jene, bei denen die Ideologie den Alltag bestimmt. Hartung, 25 Jahre alt, leitete in Thüringen eine Kameradschaft mit 100 Leuten. Tagsüber arbeitete er als Metzgerlehrling, nachmittags las er nationalsozialistische Bücher, schrieb Flugblätter, organisierte Demos. Freitags läutete der Kameradschaftsabend das Wochenende ein.
Hartung sitzt mit Dreitagebart und Chucks auf der Bühne und sagt: „Ich bin ja nicht als Nazi auf die Welt gekommen.“ Er erzählt von dem Feuerwehrverein in seinem Dorf, in dem alle rechts dachten, auch die Alten. Er benutzt Wörter wie „Exklusionsmechanismen“ und „Alltagsrassismen“, als würden die Fremdworte eine Distanz schaffen zu seiner Welt von damals. Hartung fing irgendwann an, antifaschistische Bücher zu lesen, um die Argumente seiner Gegner zu entkräften. Stattdessen kam er ins Nachdenken. Aber alle Freunde waren Neonazis. Von seinen Eltern hatte er sich zurückgezogen. Er rief bei Exit an.
Exit zählt pro Jahr 40 Aussteiger
Als Hartung vor Gericht gegen ehemalige Kameraden aussagte, organisierte Exit Polizeischutz. Und wenn heute die örtliche Antifa mal wieder schreibt, er sei gar nicht ausgestiegen, berät ihn sein Betreuer. Heute, drei Jahre später, studiert er Soziologie und Philosophie und sagt, er habe ein neues Leben. Wagner möchte den Aussteigern vor allem beibringen, selbstständig zu denken. „Das immunisiert enorm gegen totalitäre Ideologien.“ Er misstraut jeder Ideologie, vielleicht weil er in der DDR groß geworden ist. Auf der Bühne im Theater erzählt er in seinem Berliner Dialekt, was er am schlimmsten findet: nicht die Gespräche mit Neonazis, sondern Familienfeste. „Was da beim Bratwürstchen an völkischen Ideen hochkommt, ist erschreckend.“ Bernd Wagner macht dann das, was er immer macht: Er diskutiert.
Das scheint zu klappen. Wagner vergleicht seine Arbeit gern mit dem Aussteiger-Programm des sächsischen Innenministeriums. Exit hat pro Jahr etwa 40 Aussteiger bei Kosten von 200 000 Euro. Das Programm des Innenministeriums ist genauso teuer, aber im vergangenen Jahr kam nur ein Aussteiger.