Die Kunsthalle Baden-Baden beweist mit der Schau „Bilderbedarf“, dass Kunst etwas bewegen kann. Die Arbeiten von Christoph Schlingensief, Christo, Gerhard Richter und anderen haben in die Gesellschaft hineingewirkt.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Baden-Baden - Es war eine richtig fiese Aktion. Mitten im schönen Wien, nur einen Steinwurf von der Staatsoper entfernt, wurde ein Container aufgestellt, darin zehn Asylanten. Die Wiener durften im Internet abstimmen und die Ausländer wie bei „Big Brother“ rauswählen. Dem Sieger winkte eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Die Reality-Show war ein Kunst- und Filmprojekt von Christoph Schlingensief, auch wenn der auf dem Container stand und durchs Megafon in die tobende Menge rief : „Das ist nicht Kunst, was ich da mache“. Es hagelte Proteste, es gab Tumulte und Handgreiflichkeiten. Schlingensief, der mit seiner Aktion auf den fremdenfeindlichen Wahlkampf der FPÖ hinweisen wollte, wurde übel beschimpft. „Sie sitzen am Subventionstopf als Künstler“, wurde gebrüllt, schlimmer noch: „Du deutsche Sau, du! Du Künstler!“

 

In der Kunsthalle Baden-Baden kann man nun noch einmal den Film nachschauen, den Schlingensief damals drehte von diesem „hochschweinischen Unternehmen“, wie er es selbst nannte, dieser Aktion, die alle Seiten emotional ungeheuer aufpeitschte – so dass am Ende alle zu brüllen schienen, ohne zu wissen, wofür oder wogegen sie nun eigentlich protestieren. Es war eine Aktion mitten in der Gesellschaft – und damit der beste Beweis für Johan Holtens These. Der Direktor der Kunsthalle Baden-Baden hat am Wochenende seine neue Ausstellung eröffnet: „Bilderbedarf. Braucht Gesellschaft Kunst?“ Es ist selbstverständlich eine rhetorische Frage. „Wir sind der Meinung, dass die Gesellschaft Kunst braucht“, sagt Holten und versucht mit Werken der jüngeren Zeitgeschichte aber nun auch konkret zu belegen, warum die Gesellschaft Kunst braucht.

Ein interessantes Projekt, mit dem sich der junge, engagierte Direktor auf ein schwieriges Terrain wagt. Die Kunsthalle ist kaum wiederzuerkennen, die Räume wurden farbig unterlegt mit Rot, Braun oder Schwarz. Im Hauptsaal werden die Besucher in einen tiefschwarzen Gang hinein gesogen, an dessen Ende eine riesige, blendend helle Lichtwand strahlt. Eine Installation von Alfredo Jarr, die eine Ahnung geben soll von einer Welt ohne Bilder: nichts zu sehen, trotz der geballten Energie von 14 000 Watt.

Gerhard Richters Onkel als Schuldeingeständnis

Holten stellt Arbeiten vor, die nachweisbar in die Gesellschaft hineingewirkt haben oder auch als Mittel der Politik eingesetzt wurden – wie die Reichstagsverhüllung von Christo und Jeanne Claude, die zum Symbol schlechthin wurde für die Wiedervereinigung und den Neubeginn des vereinten Landes. Sechs Millionen Menschen sollen in dem Sommer 1995 nach Berlin gepilgert sein. Aber auch Gerhard Richters „Onkel Rudi“ (1965) hat eine politische Dimension jenseits des Motivs. Das Bild, das einen Soldaten in Wehrmachtsuniform zeigt, wurde wie viele andere Werke gestiftet für eine Kunstsammlung im tschechischen Lidice – als Wiedergutmachung für die Zerstörung des Ortes durch die deutsche Wehrmacht. Auch wenn Gerhard Richter erst Jahre später zugegeben hat, dass es sich tatsächlich um seinen eigenen Onkel handelt, wirkt das Bild wie ein Schuldeingeständnis einer ganzen Nation: unsere Väter und Onkel waren die Mörder – während das Bild in Lidice noch viele Jahre später grausame Erinnerungen weckte.

Besonders prägnant sind die an sich beiläufig daherkommenden Fotografien von der zweiten Documenta in Kassel aus dem Jahr 1959. Hans Haacke, damals noch ein junger Student, hat die Aufnahmen gemacht von Besucher vor den zumeist abstrakten Werken, die im Nazideutschland als entartet gegolten hätten. Ernst und zaghaft tastet sich hier eine Nation wieder an die Zivilisation heran, an demokratische Werte und einen freiheitlichen Geist, der der Kunst in Deutschland so lang abgesprochen worden war. Die Fotografien dokumentieren beeindruckend, wie über die Kunst gesellschaftliche Werte transportiert werden können.

Irrwitzige Debatte

Dass in diesem Land nicht immer ein freiheitlicher Geist weht, entlarvte Hans Haacke Jahre später. 1999 konzipierte er ein Projekt für den Reichstag in Berlin – und wollte der Inschrift am Giebel „Dem deutschen Volke“ einen neuen Schriftzug entgegensetzen: „Der Bevölkerung“. Um die belasteten Begriffe Volk und Erde neu zu bewerten, sollte der Text in einem Beet einwachsen – mit Erde, die die Bundestagsabgeordneten aus ihren Wahlkreisen mitbringen. Nur mit einer knappen Mehrheit von zwei Stimmen wurde das Projekt vom Bundestag angenommen –nach einer hitzigen, mitunter irrwitzigen Debatte, die man in der Kunsthalle Baden-Baden noch einmal nachhören kann.

Kunst kann also durchaus gesellschaftlich wirksam sein, beweist Holten, stößt mit seiner kulturgeschichtlichen Fragestellung aber doch an Grenzen, weil er der traditionellen Ausstellungspraxis folgt – und nur Kunst präsentiert, während die Auswirkungen nur auf Texttafeln erläutert werden. Im Fall von Käthe Kollwitz ist das besonders unbefriedigend. Ihre Kleinplastik „Mutter mit totem Sohn“ (1937/1938) wurde auf Intervention von Helmut Kohl zum Motiv der Neuen Wache, der zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewalt in Berlin. Ohne zu hinterfragen, ob Kunst so vereinnahmt werden darf und trotz zahlreicher Proteste wurde ein mehrfach vergrößerter Guss des Originals angefertigt. Diese Aspekte sind in Baden-Baden aber gerade nicht zu sehen oder dokumentiert, sondern es wird nur die kleine, anrührende Pietà von Kollwitz gezeigt, die nicht ahnt, was die Politik aus ihr gemacht hat.

Aktion mit der Schaufel

Selbsterklärend ist dagegen der poetische Abschluss der Schau, mit dem Holten das Aktionsfeld Deutschland verlässt und den Blick nach Peru richtet. Der belgische Künstler Francis Alys hat 500 Freiwillige zusammengetrommelt. Einen Tag lang ist eine lange Menschenkette über die Ventanilla-Sanddüne bei Lima gezogen. Jeder hatte eine Schaufel dabei und hat damit Sand ein paar Zentimeter weiter geschippt. Kunst kann die Welt eben doch verändern.