International gefeiert: Sarah Morris Foto: Sarah Morris/Anna Gaskel
2023 in Hamburg gestartet, macht die „All Systems fail“-Tour der britisch-amerikanischen Starkünstlerin Sarah Morris nun im Kunstmuseum Stuttgart Station. Ist es mehr als ein Ereignis?
Nikolai B. Forstbauer
20.09.2024 - 13:08 Uhr
Während sich im Erdgeschoss des Kunstmuseums Stuttgart am Donnerstagvormittag bereits Kritikerinnen und Kritiker versammeln, umkreist Sarah Morris zwei Stockwerke höher weiter lang gezogene Vitrinen, in denen Hunderte von Fotos, Notizen, Musikkassetten und andere Erinnerungsstücke darauf warten, aufgerufen zu werden – durch das Publikum wie auch durch Morris selbst. Immer wieder taucht die 1967 geborene britisch-amerikanische Künstlerin ein in dieses Puzzle.
Sarah Morris, die nicht Kunst, sondern Semiotik studiert hat, war schon da, als die Doktrin „Bilder werden Worte“ die Debatten bestimmte, sie erlebte als Assistentin von Jeff Koons die Wiederauferstehung der großen Künstlerfigur unter dem Deckmantel der Ironie – und blieb, als immer häufiger Elektro-Rhythmen nächtliche Kamerafahrten durch Megacitys mit fast drohender Energie aufluden. Und sie blieb auch, als Konzerne wie zu Unternehmen gewordene Museen die öffentliche Wirkungsmacht umfassender künstlerischer Raumgestaltungen entdeckten. Gibt es also doch ein Geheimnis in der scheinbar so klar formulierten Bildwelt von Sarah Morris?
Die Künstlerin selbst stupst am Donnerstagvormittag hier noch einmal, schaut dort noch einmal, nutzt aber vor allem die Kamera ihres Mobiltelefons. Nur zu gerne würde man mit hindurchschauen, verblüfft doch gerade der Blick in den Filmen von Sarah Morris. Zeigt sich die Welt tatsächlich so voller Kontraste und ist auch das vordergründig Nebensächliche tatsächlich derart als zivilisatorisches Zeichen aufgeladen, wie Sarah Morris es uns zeigt? Ob Fechterinnen bei der Olympiade 2002 in Peking, Gabelstaplerfahrer, Flaschen in der Diet-Coke-Produktion oder bei Nacht durchquerte Städte – einfach alles sieht bei Sarah Morris verdammt gut aus.
Die Schau kombiniert die Gemälde mit Archiv-Tischen Foto: Forstbauer
Heißt aber der Titel der 2023 in den Hamburger Deichtorhallen gestarteten und durch das Kunstmuseum Krefeld und das Zentrum Paul Klee mitgetragene Ausstellung(stour) nicht „All Systems fail“ – alle Systeme scheitern? In Riesenbuchstaben prangen die Worte auf dem Glaskubus des Kunstmuseums. „All Systems“ ist vom Schlossplatz aus zu lesen, das „fail“ ist jenen vorbehalten, die von der Königstraße her das Kunstmuseum in den Blick nehmen. Zufall? Wirklich buchstäblich um die Ecke gedacht?
Wichtiger ist: Sarah Morris hat es auch in Stuttgart wieder geschafft – man hinterfragt ihre Arbeit schon, bevor man die Ausstellung überhaupt betreten hat. Im Kunstmuseum beginnt sie im ersten Kubus-Stockwerk mit den Wortbildern. Das längst selbst zur Marke gewordene „No Loitering“ – Kein Herumlungern, das im New York der 1980er und frühen 1990er Jahre als Hinweis so präsent war wie hierzulande noch immer die Mahnung „Ausfahrt frei halten“. Sarah Morris machte 1994 aus der Forderung „No Loitering“ ein Bild – formulierte eine Aussage über das Selbstverständnis einer Stadt wie über ihre Zweifel, wie weit und wie lange der Fassadenglanz tatsächlich trägt.
Eigens für Stuttgart etwickelt: Wandmalerei im Oberlichtsaal Foto: Forstbauer
Von hier aus entwickelt sich die Ausstellung eher vorsichtig. Auch eine eigens für den hoch aufragenden Oberlichtsaal entwickelte Wandmalerei („Property“) bleibt als „Landschaft aus industriellen Bestandteilen“ eher im Feld analytischer Überwältigung. Natürlich aber ist das sich über zwei Stockwerke ziehende Szenario das Scharnier einer Ausstellung, die im zweiten Kubus-Stockwerk eine gänzlich andere wird. Jetzt, da die Schritte der Künstlerin vom Wortbild zur urbanen Landschaft nachvollzogen sind, ist der Weg frei für jene zahlreichen Zwischentöne und Seitenwege, die erst die zahllosen doppelbödigen Schwingungen in Morris’ Werk begründen.
Der Blick von der Brücke im zweiten Kubus-Geschoss über die Wandmalerei hinweg auf die gegenüberliegende Seite? Er trifft das Großformat „1972 Rings“, für sich genommen ein großartiges Bild – das zugleich einen Bogen zu jenem Kunstverständnis schlägt, das Sarah Morris gerade in Stuttgart Aufmerksamkeit und Begeisterung sichern könnte. Die Ringe der Olympischen Sommerspiele in München 1972 mahnen ja daran, dass der Maler und Gestalter Anton Stankowski das Erscheinungsbild der Spiele in München entwickelte. Und das zuvor auftrumpfende Bild „SM Outlined Reserve“ erinnern an den Klang der auch für Georg Karl Pfahler früh zur gleichnamigen Ausstellung gewordenen „Signale“.
In „Rings (1972)“ setzt sich Sarah Morris mit den Ereignissen der Olympischen Spiele in München 1972 auseinander. Foto: Forstbauer
Das Konkret-Konstruktive hat in Stuttgart – wie auch die Debatte über Muster und Ornament eine eigene Geschichte. Derweil fegt Sarah Morris im weitgehend die Filme würdigenden dritten Kubus-Geschoss im besten Sinn scharfsinnig durch die eigene Malerei. Städte, Produktionsabläufe oder auch Architekturdenkmäler wie Mies van der Rohes Farnsworth House in Plano und Philip Johnsons Glass House in New Canaan scheinen gleichermaßen zum Stillstand gebracht wie erst durch Morris’ Blick zum Leben erweckt.
Erneut wird schließlich in „ETC“ – dem jüngsten und in Stuttgart als Premiere zu sehenden Film – die Musik von Sarah Morris’ Ex-Mann Liam Gillick zum mitentscheidenden Faktor der filmischen Konzeption. Hier über die Frage, was sich von der Idee Hongkongs als freier Bühne des Kapitalismus’ erhalten hat. Im Cinemascope-Format gar sieht man Sara Morris Filme im Untergeschoss des Kunstmuseums. 20 Stunden braucht ein kompletter Durchlauf.
Eine Ausstellung zum Wiederkommen
Malerei, Zeichnung, Skulptur, Film – alles scheint da. Und doch fehlt über die entsprechenden Filmsequenzen hinaus etwas in dieser Schau: die Interviewpartnerin Sarah Morris. Als solche seziert sie auch ihre eigene Bildwelt. Was ist Auftrag? Was ist Gegenrede? Sarah Morris lässt es offen, macht ihre Interviews zum Teil ihres Werkes. Wir folgen ihr derweil in „ETC“ nur zu gerne in die gefilmte Weltstadt-Nacht.
„All Systems fail“, erarbeitet von Kunstmuseumsdirektorin Ulrike Groos und Kunstmuseumsmitarbeiterin Stefanie Ufrecht, ist eine Schau zum Wiederkommen – nicht nur für die Filme, sondern auch für jenen Blick in das Archiv, der auch Sarah Morris immer wieder neue Bezüge entdecken lässt.
Sarah Morris im Dialog
Ausstellung Sarah Morris – All Systems fail ist im Kunstmuseum Stuttgart bis zum 9. Februar 2025 zu sehen. Di bis So 10 bis 18 Uhr, Fr 10 bis 21 Uhr. Der Eintritt kostet 11 Euro, ermäßigt 8 Euro. Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind frei.
Gespräch An diesem Samstag, 21. September, um 15 Uhr kommt Sarah Morris zum Künstlerinnengespräch (in englischer Sprache) ins Kunstmuseum. Der Eintritt ist frei. Der umfassende Katalog (Hatje Cantz) kostet 40 Euro. Für Stuttgart hat Sarah Morris eine eigene Edition geschaffen. Das Motiv aus dem Film „ETC“ kostet 300 Euro.