„Nation im Siegesrausch“ heißt eine Ausstellung im Hauptstaatsarchiv zum Deutsch-Französischen Krieg und der Gründung des Deutschen Reichs vor 150 Jahren. Darin wird auch die Frage geklärt, warum der württembergische König militärisch zu den Siegern gehörte, politisch aber eine Niederlage erlitt.

Stuttgart - Wenn ein historisches Datum in diesen Monaten besondere Aufmerksamkeit bekommt, dann ist es das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, verbunden mit der Niederlage Deutschlands und der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur. Übersehen in der öffentlichen (und veröffentlichten) Wahrnehmung wird ein anderes Jubiläum: der Deutsch-Französische Krieg 1870 und der Weg zur nationalen Einheit Deutschlands, die mit der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal des Versailler Schlosses ihr bis heute bildmächtiges Symbol erhielt.

 

Dem Hauptstaatsarchiv in Stuttgart ist es zu verdanken, dass dieser 150. Jahrestag aus dem kollektiven Erinnerungsschatten geholt und dabei ein besonderer landsmannschaftlicher Akzent gesetzt wurde: Die Ausstellung „Nation im Siegesrausch“ beleuchtet die Beteiligung Württembergs am Kriegsgeschehen und der Gründung des Deutschen Reichs 1870. Und sie widmet sich einer darüber hinaus reichenden Frage: Wie lässt sich erklären, dass die zuvor preußenkritische Bevölkerung begeistert oder zumindest bereitwillig den Weg zum Nationalstaat mitging?

Militärischer Sieg, politische Niederlage

Dabei veranschaulicht die in vier Abteilungen gegliederte Schau das, was Kurator Wolfgang Mährle prägnant so umschreibt: „Das Königreich Württemberg stand auf der Seite der militärischen Sieger, erlitt jedoch politisch eine Niederlage“. Dieses Paradoxon erklärt sich damit, dass die württembergischen Truppen mit Preußen in den Krieg gegen Frankreich zogen (oder ziehen mussten), die Konsequenz des Siegs, nämlich die Gründung des Deutschen Reichs, aber vor allem in der Monarchie um König Karl und Königin Olga nicht gewünscht war. „Württemberg verlor durch die Reichsgründung seine Selbstständigkeit und trat als Bundesstaat ins neue Deutsche Reich ein“, so Mährle. König Karl war bei der Kaiserproklamation in Versailles dann auch gar nicht dabei, er erklärte, er sei wegen seines Silbernen Verlobungstags unabkömmlich. Deutlicher lässt sich Desinteresse diplomatisch kaum erklären.

Antipreußische Haltung

Mährle dokumentiert in der Ausstellung nicht nur Krieg und Gründung, er stellt die Geschehnisse in einen größeren geschichtlichen Zusammenhang. Das beginnt mit der Niederlage Württembergs, das im Deutschen Krieg 1866 zwischen den Großmächten Preußen und Österreich auf der Seite der Habsburger kämpfte und das Gefecht bei Tauberbischofsheim verlor. Trotz der dann entstehenden engeren Bindungen an Preußen (Schutz- und Trutzbündnis, Zollverein) war die Großmacht im Norden in weiten Teilen der Bevölkerung wenig beliebt. Der sich abzeichnende Nationalstaat unter Führung Preußens wurde in Württemberg abgelehnt. Dort wollte man als Königreich eigenständig bleiben, allenfalls einen lockeren süddeutschen Bund mit Österreich bilden. Diese antipreußische Haltung hielt bis in den Sommer 1870 an, als aufgrund der vertraglich fixierten Beistandspflicht im Kriegsfall auch in Württemberg die Mobilmachung angeordnet wurde.

Das Schicksal der Brüder Taube

Zwar waren die württembergischen Truppen schon zahlenmäßig eher Mitläufer, sie feierten dennoch einige, wenn auch überschaubare militärische Erfolge – nicht bei der kriegsentscheidenden Schlacht in Sedan Anfang September, aber wohl zuvor bei der Eroberung von Wörth und später bei der Verhinderung eines Ausbruchs der in Paris eingeschlossenen französischen Truppen Anfang Dezember. All das führte auch zu einem Stimmungsumschwung in Württemberg: Mit den militärischen Erfolgen der deutschen Armee wuchs, begleitet von einer patriotischen Propaganda, die Zustimmung zum Deutschen Reich.

Am 25. November unterzeichnete Württemberg den Beitrittsvertrag. „Die Dynamik dieses Stimmungswandels innerhalb kurzer Zeit war enorm, ihr konnten sich auch der König und die Regierung nicht entziehen“, bilanziert Mährle. Seine Erklärung dafür: „Württemberg, das vier Jahre zuvor verloren hatte, war nun auf der Seite des Siegers.“ In der öffentlichen Wahrnehmung spielte auch das Schicksal von Erich und Axel von Taube, den Söhnen des württembergischen Außenministers, eine große Rolle: Beide starben beim verhinderten Ausbruchsversuch der französischen Armee im Dezember und wurden unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Stuttgart beigesetzt.

Nationalistische Erinnerungskultur

Es gehört zu den Stärken der Ausstellung, dass sie über die reinen Kriegs- und Gründungsereignisse, so spannend sie im Detail sind, hinausweist. So wird der direkt danach einsetzenden patriotisch gefärbten Erinnerungskultur breiter Raum gegeben. In Stuttgart wurde den heimkehrenden württembergischen Regimentern im Juni 1871 ein großer Empfang bereitet: Am Tübinger Tor war eigens ein Triumphbogen aufgebaut, durch den die Soldaten in die Stadt einzogen. Auch danach wurde die Erinnerung mit stark nationalistischer Tendenz über Jahrzehnte gepflegt: mit Büchern, mit Feiern zu Jahrestagen von Schlachten, mit Denkmälern – und mit riesigen Rundbildern von Kriegsszenen, für die auch in Stuttgart eigens ein 22 Meter hohes Panoramagebäude beim heutigen Linden-Museum gebaut wurde. Für Mährle führt diese pathetisch-nationalistische Erinnerungs(un)kultur, aber auch das Vertrauen in die militärische Macht Deutschlands gegen einen an sich überlegenen Gegner direkt zu den Katastrophen im 20. Jahrhundert.

Pickelhaube und Beinprothese

Das Hauptstaatsarchiv zeigt alle wichtigen Verträge und Schriften dieser Zeit im Original – beeindruckende Zeugnisse. Zu sehen sind auch die Karte zum Verlauf des Krieges, die legendäre Pickelhaube, der württembergische Waffenrock mit der charakteristischen Doppelknopfreihe, eine Beinprothese, heroisierende Schlachtengemälde, aber auch Spottmedaillen, auf denen aus dem „Empire français“ ein „Vampire français“ wird. Und außerhalb der sehenswerten Ausstellung sind in Stuttgart der Bismarckturm, das Denkmal auf dem Karlsplatz, die Büsten von Moltke und Bismarck im Lapidarium Zeugnisse dieser Jahre – und das Grabmal der Gebrüder Taube auf dem Hoppenlaufriedhof.

Öffnungszeiten und Buch

Das Hauptstaatsarchiv ist wie die meisten Museen unter Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregeln geöffnet. Die Ausstellung „Nation im Siegesrausch“ ist geöffnet: montags von 9.15 bis 17 Uhr, dienstags und mittwochs von 8.30 bis 17 Uhr, donnerstags von 8.30 bis 19 Uhr und freitags von 8.30 bis 16 Uhr. Sie endet am 31. Juli.

Zur Ausstellung ist ein von Wolfgang Mährle herausgegebenes Begleitbuch erschienen, das einen großen historischen Bogen spannt und daneben als Katalog die Ausstellungsstücke erklärt. 384 Seiten mit Karte, 35 Euro.