„Welche Bauwerke, welche Architekten prägen unsere Stadt?“, fragt die Schau in der Stuttgarter Weißenhofgalerie und präsentiert ein Who’s who der „Local Heroes“.

Stuttgart - Mit einem Lesebuch vergleicht der Stuttgarter Architekt Roland Ostertag gern die gebaute Stadt. In Stuttgart, wo Abbruch bis heute als prima ratio regiert, vor der kein denkmalgeschützter Bahnhof und keine preisgekrönte EnBW-Hauptverwaltung sicher sind, würden aus diesem Buch immer wieder Seiten herausgerissen. Bedenkliche Lücken weist inzwischen besonders das Kapitel Nachkriegsmoderne auf. Ihr allmähliches Verschwinden wird indes schulterzuckend hingenommen, weil sie, grau und in die Jahre gekommen, weithin als wertlos gilt. „Stuttgart reißt sich ab“, hieß die Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof, die sich im vergangenen Sommer genau diesem Thema in einer Fotodokumentation widmete.

 

Die länger werdende Verlustliste hat zweifellos auch den Anstoß zu den „Local Heroes“ gegeben: „Welche Bauwerke, welche Architekten prägen unsere Stadt?“, fragten sich Masterstudenten des Architekturprofessors Peter Cheret an der Universität Stuttgart. Ergebnis ihrer Recherchen ist eine Art Who‘s who der örtlichen Baugeschichte des 20. Jahrhunderts oder auch ein um die fehlenden Seiten ergänztes (Ausstellungs-)Lesebuch der Stadt: eine Bestandsaufnahme der Helden und Häuser am Neckar, ein Kompendium der Namen und Bauwerke sowie der ideen- und architekturgeschichtlichen Zusammenhänge, das nun ebenfalls in der Weißenhof-Galerie aufgeblättert wird.

Geduld, gute Augen und ein starker Rücken

Lokale Helden haben es allerdings schwer in Zeiten, wo einer schon mindestens Stararchitekt sein muss, um überhaupt Beachtung zu finden. Wilfried Beck-Erlang, Helmut Erdle oder Karl Gonser werden darum selbst Stuttgartern kaum mehr etwas sagen, die mit Namen wie Bonatz, Behnisch und Gutbrod durchaus etwas anzufangen wissen. Aber die Stadterzählung des 20. Jahrhunderts umfasst eben mehr als Fernsehturm und Liederhalle. Zu ihr gehört zum Beispiel der Mittnachtbau von Eisenlohr und Pfennig an der Königstraße (1928) ebenso wie das Kollegiengebäude I der Universität von Rolf Gutbier, Günter Wilhelm und Kurt Siegel (1960). Auch das wunderbare Stadtbad Nord in Feuerbach mit seiner schwungvollen Hängedachkonstruktion, 1964 erbaut von Manfred Lehmbruck, ebenso wie das Haus Englisch von Paul Stohrer aus dem Jahr 1954, bei dem man sich gerührt erinnert, dass es in Kindertagen die Topadresse in Stuttgart war, weil das damals darin residierende Schuhgeschäft „Schöpp“ eine Rutschbahn hatte. Beide Bauten, Schwimmbad und Haus Englisch, erfährt der Ausstellungsbesucher zu seiner Erleichterung, stehen unter Denkmalschutz und werden derzeit saniert.

Stammvater der Stuttgarter Schule ist Theodor Fischer, dem die Stadt unter anderem das Kunstgebäude am Schlossplatz und die Heusteigschule zu verdanken hat. Die Architektur in der Nachfolge seiner traditionalistischen Auffassung wird nach 1945 zunehmend von amerikanischen und internationalen Einflüssen überlagert, die in Wanderausstellungen Verbreitung fanden. Entscheidende Theoretiker der Zeit sind der Chefpropagandist des Neuen Bauens, Sigfried Giedion, und – als sein Antipode – Alexander Mitscherlich, der mit seinem Buch über die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ genau dieser Tabula-rasa-Moderne den Prozess machte. Paul Schmitthenners Kochenhofsiedlung, 1933 als konservatives Gegenstück zu Weißenhofsiedlung gebaut, hat bis in unsere Tage gleichwohl mit wenig Nachsicht zu rechnen. Über sie heißt es in der Ausstellung, dass sie „geduldig ihr Dasein im Schatten der gefeierten Moderne“ friste. Im mitfühlenden Ton unterscheidet sich das doch erheblich von der aggressiven Ablehnung, die den führenden Köpfen der Stuttgarter Schule zum Teil immer noch entgegenschlägt und zur Rechtfertigung etwa auch der Verhackstückung des Bonatz-Bahnhofs diente.

Man muss viel lesen in dieser Schau, und man muss Geduld, gute Augen und einen starken Rücken mitbringen, weil einige Texttafeln so tief hängen, dass sie nur in der Hocke zu entziffern sind. Als „Lesebuch“ der Stadt enthält sie auch keine großformatigen Hochglanz-Farbtafeln oder Modelle, sondern präsentiert sich immer an der Wand lang in nüchternem Schwarzweiß. Die Mühe lohnt sich aber, und am Ende wünscht man sich, dass es die ganze Ausstellung tatsächlich bald als Stadt-Lesebuch gibt, worin man nachschlagen kann, wenn mal wieder etwas fehlt im Stadtbild.