Frankfurt am Main hat eine tragende Rolle in Albrecht Dürers Künstlerbiografie gespielt. Deshalb widmet das Städel-Museum dem Renaissance-Genie jetzt eine so umfassende wie überraschungsreiche Werkschau.

Frankfurt am Main - Wenn das kein Beispiel für gelungene Integration ist! Der Mann, der von seinen humanistischen Zeitgenossen ebenso einstimmig wie von Romantikern, Nazis und modernen Bildgelehrten als Zentralgestirn an den Himmel der deutschen Kunst gehängt wurde, war eigentlich ein Ausländerkind!

 

Wohl um 1455 verschlug es den ungarischen Goldschmied Albrecht Dürer d. Ä. aus der Kleinstadt Ajtos in das spätmittelalterliche Wirtschaftszentrum Nürnberg, wo sich der Auswanderer in seiner Zunft alsbald Ruhm und Geld erwarb, weswegen er zunächst auch den 1471 geborenen Sohn als Lehrling im eigenen Metier ausbildete. Doch Albrecht Dürer junior stand der Sinn nicht danach, Edelmetall zu gießen, zu hämmern und zu gravieren. Er ahnte: weiter noch als mit Goldschmuck und Tafelsilber konnte man es mit gemalten Körpern bringen. Vorausgesetzt, sie hatten schwellende Muskeln, organische Konturen und Charakterfalten in den Gesichtern.

Gerade diese neu erwachte, an der Antike geschulte Sinnlichkeit der nackten Haut hat den Halbmagyaren zum wichtigsten Vertreter der Renaissance nördlich des Brenners werden lassen. Zwar finden sich seine entscheidenden Lebensspuren nach wie vor in der fränkischen Geburtsstadt, doch auch Frankfurt am Main übernahm eine tragende Rolle in Dürers Aufsteigerbiografie. Über die bereits damals in der Mainmetropole etablierten Handelsmessen nämlich verbreitete sich sein druckgrafisches Œuvre in ganz Europa – auch wenn es meist seine Ehefrau Agnes war, die der Familienunternehmer zu Verkaufsreisen nach Hessen schickte.

Man entdeckt den Tausendsassa in all seinen Disziplinen

Mit der überraschungsreichen Werkschau des altdeutschen Genies im Städel besinnt sich Frankfurt nun auf seine fast vergessene Rolle als Deutschlands zweite Dürer-Stadt. Hier stand mit dem sogenannten Heller-Altar der Dominikanerkirche einst eines der bedeutendsten malerischen Ensembles des reifen Künstlers. Der vermögende Kaufmann Jakob Heller hatte es in Auftrag gegeben. Der Kurator der Städelschau, Jochen Sander, freut sich deshalb vor allem über seine organisatorische Leistung, den verstümmelten und auf verschiedene Museen verteilten Flügelaltar erstmals wieder zusammenzuführen. Den 1729 verbrannten Mittelteil der „Marienkrönung“ ersetzt allerdings eine historische Kopie.

Doch der auf zwei Stockwerke und tausend Quadratmeter verteilte Parcours eröffnet noch wesentlich mehr Perspektiven als nur den Blick auf Dürers Verwurzelung in der lokalen Geschichte. Man entdeckt den Tausendsassa in all seinen Disziplinen. Nachdem im vergangenen Jahr das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg das Frühwerk des Künstlers aus dem näheren kulturellen Umfeld heraus zu verstehen suchte, erweitern die Frankfurter diese kontextgebundene Sichtweise nun ins Europäische.

Reisefreudig und nach allen Seiten bestens vernetzt, vereinigt Dürer in seinem vielfältigem Schaffen künstlerische Entwicklungen der Epoche sowie philosophische Diskursfäden. Auf dem Gesellenmarsch durch die Alpen erfand er quasi im Vorübergehen die Landschaftsmalerei, später arbeitete sich der Allrounder in Nachbardisziplinen wie Architektur und Design ein. Unverrückbar im Fokus seiner Aufmerksamkeit hielt sich jedoch stets das Bild des Menschen: vom frühen Täfelchen des Schmerzensmannes aus der Karlsruher Kunsthalle über das büstenhaft-strenge Konterfei der Elsbeth Tucher (bekannt als Motiv des alten Zwanzig-Mark-Scheins) bis zur reifen Kreidezeichnung eines bärtigen Mannes, bei dem es sich vermutlich um den Augsburger Frühkapitalisten Anton Fugger handelt.

Doch egal ob reiche Honoratioren oder arme Sünder wie der heilige Hieronymus von 1497 – Dürer war stets bestrebt, Leibern und Gesichtern naturnahe Unbefangenheit zu verleihen. Was noch seinem unmittelbarem Vorgänger und Wegbereiter Martin Schongauer unterlief, wollte der Jüngere um jeden Preis vermeiden: Gestalten mit zu langen Beinen, die direkt am Oberkörper hängen, als hätte der Mensch kein Gesäß. Darum studierte Dürer als erster Mitteleuropäer Wuchs und Maß am Nacktmodell. Anhand des frisch restaurierten Dresdener Skizzenbuchs und begleitender Einzelblätter erschließt ein Ausstellungskapitel seine bahnbrechenden Proportionsforschungen.

Anders als bei Leonardo oder Michelangelo beruht die Künstleranatomie des Deutschen nicht primär auf blutigem Leichenstudium, sondern auf geometrischer Zergliederung. Ein unscheinbares Schmierblättchen des British Museum offenbart, wie Dürer einen Lanzenträger aus Rechteckblöcken zusammensetzt – in seiner roboterhaften Anmutung scheint er den figürlichen Konstruktivismus der 1920er Jahre vorwegzunehmen. Der Renaissancekünstler allerdings übersetzt die stereometrische Reduktion wieder zurück in jenes bewegte Gliederspiel, dem insbesondere die bedeutenden Grafikzyklen ihre dramatische Unmittelbarkeit verdanken.

„Subtile jngenia der menschen in frembden landen“

Wenn der Engel nach der Vertreibung aus dem Paradies das Schwert über dem Kopf schwingt, apokalyptische Reiter die Verdammten niedertrampeln und die Henker Christus aufs Marterholz zwingen, empfindet man all diese Figurengruppen nicht als in Posen eingefroren, vielmehr erwacht der Bildaugenblick im Betrachterkopf wie von selbst zur Handlungssequenz.

Auch des in früher Jugend erlernten Goldschmiedefachs erinnerte sich Dürer in späteren Jahren gern. Nicht nur zeichnete er immer wieder Kelche und Pokale als Bildrequisiten. Die goldenen aztekischen Kultgegenstände, die der spanische Eroberer Hernán Cortés aus Mittelamerika mitbrachte, erlebten in Dürer, der sie 1520 in Brüssel sah, ihren vielleicht verständigsten Betrachter, bevor sie später aus Habgier eingeschmolzen wurden. „Ich hab“, notierte der Reisende, „gesehen wunderliche künstliche ding und hab mich verwundert der subtilen jngenia der menschen in frembden landen.“ Caramba, so lobende frühneuhochdeutsche Worte fand der alte Nürnberger für seine Kollegen aus dem heutigen Mexiko. Und nicht zuletzt, weil auch dieses kleine Kapitel der Kunst- und Kolonialgeschichte in Frankfurt aufgearbeitet wird, kann man der Ausstellung zurufen: Viva Dürer!