Die Sonne ist der Menschheit seit Anbeginn ein Mysterium. Eine großartige Ausstellung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden hat sich auf den Weg zu dem 150 Millionen Kilometer entfernten Zentralgestirn gemacht.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Dresden - Schöner als Ingeborg Bachmann kann man es nicht sagen. Ernst, aufrichtig, in ungerührtem Wienerisch spricht die Lyrikerin ihre Hymne „An die Sonne“ in die Fernsehkamera, und man weiß nicht, was einen mehr bannt: Sind es die klarsichtigen Verse? Oder ist es ihr Gegenstand? „Zu weit Schönrem berufen als jedes andere Gestirn / weil dein und mein Leben jeden Tag an ihr hängt, ist die Sonne.“ (. . .) „Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein. . .“

 

Der knisternde Schwarzweiß-TV-Clip aus dem Jahr 1961 ist gleich im ersten Ausstellungsabschnitt über die Sonne als Gottheit zu sehen, und schon damit hat sich der Besuch gelohnt: Mit Bachmann kommt man dem Mysterium der Feuerkugel, die 1,3 Millionen Erden fassen kann, auf einen Schlag gefühlt ein paar Hunderttausend Kilometer näher.

Einmal die Sonne berühren. Der Mensch lässt nichts unversucht, um dieses letzte große Ziel zu erreichen. Seit dem 12. August 2018 ist die „Parker Solar Probe“ unterwegs. Mit respektablen 193 000 Metern pro Sekunde, trotzdem benötigt die datensammelnde Nasa-Sonde sieben Jahre, bis sie in die Atmosphäre der Sonne eintritt und verglüht. Mit dem Auto würde es 150 Jahre dauern. Das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden hat sich auf eine Schwesternmission begeben. Das Haus setzt in der Schau „Shine on me. Wir und die Sonne“ zu sieben Umrundungen des Zentralgestirns an, wobei der Blickwinkel variiert: Göttin, Zeitgeberin, Symbol, Leuchtkraft, Arznei, Energiequelle und Stern – die Sonne ist für den Menschen jedes für sich und alles zusammen. Und so erzählen 430 Exponate – Skulpturen, Gemälde, Filme, Installationen, technische Geräte und Alltagsgegenstände – ebenso viele fesselnde Geschichten über die Menschheit und diese im Innersten unvorstellbare 15 Millionen Grad heiße Kugel, die die Existenz überhaupt bedingt.

Sophokles: „Ein jeder verehrt das kreisende Rund“

Nur konsequent, dass die Kuratorin Catherine Nichols dabei die Epochen genauso zusammenführt wie Kulturen und Disziplinen: Kunst, Kulturgeschichte, Hoch- und Populärkultur, Naturwissenschaften. Ist doch die Sonne und ihr unabänderlicher Rhythmus einer der wenigen Universalismen: Sie schert sich nicht um den Menschen, vor ihr sind alle gleich. Grace Jones erinnert daran in ihrem Song „Sunset sunrise“. Ein paar Schritte nur von der androgynen Pop-Diva entfernt verrät der Sonnenwagen von Trundholm im heute dänischen Norden, wie man sich in der Bronzezeit, also um 1400 vor Christus, den Sonnenlauf vorgestellt hat.

Es ist duster in den Räumen, so scheint der Ausstellungsgegenstand noch heller, und die Zeitsprünge wie auch die Distanzen zwischen den geografischen Herkunftsorten unmittelbar benachbarter Exponate illustrieren die universelle Faszination des Sonnenballs. „Ein jeder verehrt das kreisende Rund der Sonne“, erkannte Sophokles. Gott, Göttin, Schöpfungskraft war sie in Japan, Ägypten und Babylon, bei den Aborigines, bei den Azteken. Mehr denn je ist sie heute Liebling der Wissenschaft, auf immer und ewig muss sie als Metapher für Erkenntnis herhalten, als Symbol für Leben und Tod und noch etliches mehr: Freiheit, Ewigkeit, Reinheit, Wohlbefinden. Wer kennt noch die Sunlicht-Seife? Und wer erinnert sich an die Tragödie von Hannelore Kohl? Die Kanzlergattin, die von ihrer Licht- und Sonnenallergie in die Dunkelheit der Depression und letztlich wohl in den Tod getrieben wurde?

Beyoncé inszeniert sich als Sonnenkönigin

Das Verhältnis von Sonne und menschlicher Gesundheit ist zweideutig, was unter anderem ein australischer Sonnenschutzschirm mit Lichtschutzfaktor 50 plus und die merkwürdige hundehüttenartige Konstruktion eines Kopflicht-Bads, die 1926 ein Arzt zur medizinischen Lichtzufuhr entwickelte, belegen.

Herrscher haben sich seit jeher mit der Sonne gleichgesetzt, mit ihrer Hilfe ihren Machtanspruch behauptet – auch das führt die Schau mehrfach vor Augen. Der einjährige Prinz Hirohito, der mit der Flagge der aufgehenden Sonne für die Vorherrschaft Japans wirbt. Mao Zedong, der sich als rote Sonne seines Volkes verstand. Ein präparierter Löwe, der König der Tiere, dank goldener Sonnenmähne. Die Popsängerin Beyoncé, die 2017 bei der Grammy-Verleihung ihren nackten Babybauch mit einer goldenen Strahlenkrone auf dem Haupt kombiniert: So sieht eine Fruchtbarkeitsgöttin aus.

Eine Geschichte ist erhellender als die andere, erfährt man so beim Mäandern durch fünftausend Jahre Menschheitsgeschichte. Eine besonders eindrückliche hat die norwegische Stadt Rjukan parat, die von Oktober bis März kein Sonnenstrahl erreichen kann. Ein Künstler hat deshalb eine aus drei Spiegeln bestehende Installation so auf einem Berg platziert, dass sie die Sonnenstrahlen auf den Marktplatz des Örtchens umlenkt. 500 Stunden mehr Sonnenschein im Jahr – und der Mensch ist ein anderer, wie eine fesselnde Filmdoku zeigt.

Udo Jürgens trällert „Die Sonne und du“

Dem stehen dunkelste Momente der Sonnensymbolik gegenüber: Ein Propagandavideo dokumentiert den Zynismus der US-Regierung, die mit ihrem Atombombentest die Existenzgrundlage der Bewohner des pazifischen Bikini-Atolls zerschmettert und dieses „Opfer“ zum Gewinn für die Menschheit umdeutet.

Auf den letzten beiden Umlaufbahnen, die die Plasmakugel als Energiequelle und Stern in den Blick nehmen, gewinnt die Wissenschaft die Oberhand. Tatsächlich ist die „Entzauberung“ der Sonne längst im Gange. Da kann Udo Jürgens noch so lässig seinen wunderbaren Schlager „Die Sonne und du“ trällern, da kann die solarbetriebene „Solar Do-Nothing Machine“ von Charles und Ray Eames noch so nutzlos und blumenbunt vor sich hinkreiseln.

Die Sonne befindet sich in ihrer Lebensmitte, vor viereinhalb Milliarden Jahren entstand sie aus Gas- und Staubwolken, in viereinhalb Milliarden Jahren wird ihr der Brennstoff ausgehen. Es schmerzt, in einem Video zu erfahren, wie sie sterben wird. Der gelbe Riese wird zum „weißen Zwerg“ degradiert werden; „dunkel, kalt und tot“, das prophezeite Ende der Sonne gleicht dem des Menschen. Will man sich das vorstellen? Nein. Stattdessen flüstert man ihr am Ende zu: Leuchte weiter, bis in alle Ewigkeit! Denn „Nichts Schönres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein. . .“