Eine Ausstellung in der Württembergische Landesbibliothek erinnert an die sogenannten Kindertransporte, mit denen 10 000 jüdische Kinder noch rechtzeitig aus Nazi-Deutschland fliehen konnten. Unter ihnen waren auch Kinder aus Stuttgart.
„Kindertransport“ – dieses Wort wirkt wie ein blutleerer, technischer Begriff. Es ist nicht imstande, die Gefühlswelten der Eltern und Kinder auszudrücken, deren Wege sich damals trennten. In einigen Fällen führten die Wege später wieder zusammen, meist aber liefen sie für immer auseinander – für die Kinder in Pflegefamilien, für die Eltern in den gewaltsamen Tod. Das Wort „Kindertransport“ sagt nichts aus über den Abschiedsschmerz, über das Hoffen und Bangen und über die Einsamkeit, die sich bei den Betroffenen einstellte. Welches andere Wort könnte all das ausdrücken? Vermutlich keines. Das damalige Geschehen bleibt immer erklärungsbedürftig.
Verbunden mit den „Kindertransporten“ waren intensive Bemühungen jüdischer und anderer Organisationen, Kinder und Jugendliche aus Nazi-Deutschland in Sicherheit zu bringen – zumeist nach England. Die Reichspogromnacht vom 9. November 1938 hatte wie ein Fanal gewirkt. Nachdem die Regierung in London ihre Zustimmung gegeben hatte, gelangten während eines kleinen Zeitfensters, das sich zwischen Ende 1938 und 1939 auftat, rund 10 000 jüdische Minderjährige aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen mit sogenannten Kindertransporten per Zug und Schiff ins rettende England. Heute würde man von unbegleiteten Flüchtlingen sprechen. Sie wurden bei Pflegeeltern, in Wohnheimen und Schulen untergebracht.
Diesem immer noch wenig bekannten Geschichtskapitel ist eine am Donnerstagabend eröffnete Ausstellung in der Württembergischen Landesbibliothek gewidmet (nicht zu verwechseln mit der Ausstellung im benachbarten Hauptstaatsarchiv über die „Kinderverschickung“ in Baden-Württemberg nach dem Krieg). Der Ausstellungstitel „I said ,Auf Wiedersehen’“ gibt einen Hinweis darauf, welche Art von Reise die Kinder in den Kindertransporten damals angetreten haben: Sie führte in eine andere Welt, in der für sie ein neues Leben begann – oft ohne Eltern, Familie und die vertraute Umgebung und Sprache, dafür in Sicherheit.
Für die Kinder begann ein neues Leben – oft ohne Eltern
Von all dem zeugen Originalbriefe und andere Dokumente in der Ausstellung, die exemplarisch fünf Kinderschicksale beleuchtet. Sie ist das Ergebnis einer Kooperation der Berthold-Leibinger-Stiftung mit dem Freundeskreis Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, der Wiener Holocaust Library und der Association of Jewish Refugees. Kuratiert hat die Ausstellung Ruth Ur, Geschäftsführerin des Freundeskreis Yad Vashem. Anfang des Jahres war sie bereits im Paul-Löbe-Hauses des Deutschen Bundestags zu sehen. Schon damals war der Wunsch entstanden, sie nach Stuttgart zu holen. Das ist der Berthold-Leibinger-Stiftung nun gelungen. Die Exponate und großformatigen Tafeln mit prägnanten Zitaten aus Briefen können nun in der Landesbibliothek besichtigt werden.
35 613 jüdische Schicksale wurden vom Land erfasst
Die Ausstellung stellt jedoch nicht nur eine Wiederholung der Berliner Schau dar, sondern wird lokal ergänzt und bereichert durch Akten des Hauptstaatsarchivs. Auf vielen Regalmetern lagern dort sogenannte Erhebungsbögen, die nach einem Beschluss des baden-württembergischen Landtags von 1962 an von einer „Dokumentationsstelle über die jüdischen Schicksale während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933 – 1945“ angefertigt wurden. Ziel war es, die Schicksale der Jüdinnen und Juden im heutigen Gebiet Baden-Württembergs behördlicherseits zu erfassen – ein bundesweit einmaliges Unterfangen. Bis 1968 wurden 35 613 Schicksale aktenkundig; das entsprach knapp 90 Prozent der früheren jüdischen Bevölkerung im Südwesten.
Einige der Erhebungsbögen mit dem Stichwort „Kinder-“ oder „Jugendtransport“ sind nun auch in der Ausstellung zu sehen – etwa der von Hannelore Fernanda Levi. Darauf steht in dürren Worten: „Auswanderung: nach England.“ Hannelore war damals elf Jahre alt. Die Stuttgarter Stolperstein-Initiative hat ihr ein kleines Denkmal in Form eines Stolpersteins in der Eberhardstraße 35 gesetzt und ihren Lebensweg recherchiert. Ihre Eltern hatten ihr beim Abschied erklärt, dass sie eine Urlaubsreise antrete und man sich nach dem Krieg wiedersehen würde. Das Mädchen kam bei verschiedenen Pflegefamilien unter. 1945 erfuhr sie vom Tod der Eltern. Sie waren nach Riga deportiert und dort vermutlich erschossen worden. Nach dem Krieg wanderte Hannelore Levi nach Neuseeland aus und fand dort eine neue Heimat.
Als unsere Redaktion im Februar in Zusammenhang mit der Berliner Ausstellung über ein anderes jüdisches Mädchen aus Stuttgart namens Doris Bloch berichtete, meldete sich Irene Epple, eine Leserin aus Schorndorf: „Das ist die Doris, mit der ich einst in die Falkertschule im Stuttgarter Westen gegangen bin“, schrieb sie. Sie fand auch ein Klassenfoto, das die beiden Freundinnen, deren Wege sich trennten, in derselben Reihe zeigt. Die Ausstellung brachte die Erinnerung zurück.
Ein anderes, ebenfalls in der Ausstellung dokumentiertes Beispiel, ist das der Brüder Gerhart Ernst und Heinz Otto Kahn, die mit ihrer Familie im Herdweg lebten und die jüdische Schule besuchten. Gerhart Ernst war sieben, Heinz Otto neun Jahre alt, als sie 1939 von Stuttgart aus nach England aufbrachen. Ursprünglich, so ist es in den Erhebungsbögen vermerkt, wollten sie in den väterlichen Betrieb einsteigen – die Mechanische Leinenweberei in Laichingen. 1938 musste der Vater die Firma an einen SS-Offizier verkaufen. Der Familie erkannte, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr hatte. Den Eltern gelang es, die Söhne in einem Kindertransport unterzubringen. Sie selbst flohen 1941 über den Atlantik.
1944 gab es ein Wiedersehen in den USA. Die Kleinfamilie überlebte. Dennoch war da Trauer: acht Mitglieder der Kahns waren den Nazis zum Opfer gefallen. Mit Heinz Otto Kahn, der sich jetzt Henry Kandler nannte, hielt Susanne Bouché von der Stuttgarter Stolperstein-Initiativen bis zu dessen Tod vor einem Jahr Kontakt. Er hatte etliche Jahre nach dem Krieg auch wieder Stuttgart besucht und dafür sogar einen Deutschkurs absolviert. Die Ausstellung in der Landesbibliothek kann als Würdigung all dieser Leben verstanden werden – und erinnert unausgesprochen an jene 1,5 Millionen Kinder, die es nicht schafften, den Nazis zu entkommen.
Öffnungszeiten Die Ausstellung „I said ,Auf Wiedersehen‘“ hat bis 25. Januar 2025 Montag bis Freitag von 8 bis 22 und samstags von 10 bis 20 Uhr geöffnet. Weitere Informationen unter www.wlb-stuttgart.de
Infos
Öffnungszeiten
Die Ausstellung ist bis 25. Januar 2025 jeweils Montag bis Freitag von 8 bis 22 und samstags von 10 bis 20 Uhr geöffnet; an Sonn- und Feiertagen geschlossen. Begleitprogramm
Zwei Veranstaltungen begleiten die Ausstellung: Am Samstag, 16. November, 18 Uhr spricht der Psychoanalytiker Kurt Grünberg (Frankfurt am Main) in der Württembergischen Landesbibliothek über „Kindertransporte und transgenerationale Trauma-Tradierung“ . Am Donnerstag, 28. November berichtet die Leiterin des Helen und Kurt Wolff-Archivs für Exilliteratur, Nikola Herweg (Marbach), über Ilse und Helga Aichingers Briefwechsel zwischen London und Wien, 1939-1947.
Weitere Informationen unter: www.wlb-stuttgart.de