An diesem Samstag öffnet das Museum der 100 Tage in Kassel seine Pforten. Zu erwarten ist ­wieder eine Schau der Superlative – aber auch Krisensymptome sind bei dieser 14. Ausgabe des Festivals für Gegenwartskunst zu bemerken.

Kassel - Alle zehn Jahre fügt es sich, dass mehrere Kunstevents der Schwergewichtsklasse zusammentreffen. Dieses Jahr ist es wieder so weit: Biennale in Venedig, Skulptur-Projekte in Münster und erstmals auch in Marl, Documenta in Kassel und erstmals auch in Athen. Mitte Juni kommt mit der Art Basel auch noch die international wichtigste Kunstmesse dazu. Kein Wunder, dass sich in der Kunstwelt Nervosität breitmacht, von der „taz“ spöttisch als „Fomo“-Syndrom diagnostiziert: „Fear of missing out“ – die Angst, etwas zu verpassen. Wer alles mitkriegen will, muss sich allmählich beeilen. Die Athener Documenta endet bereits am 16. Juli.

 

Allein die Häufung der Großereignisse macht deutlich, dass die Documenta – zweifellos noch immer einer der Supertanker des Kulturbetriebs – ihren Alleinvertretungsanspruch als bedeutendste Plattform der Gegenwartskunst eingebüßt hat. Vorbei die Zeiten, als das 100-Tage-Museum die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kunstwallfahrer genoss, als die Fotorealisten sich von der Nachkriegs-Abstraktion lossagten (1972) oder als Joseph Beuys sein – gerade in Andres Veiels Dokumentarfilm „Beuys“ wieder zu bewunderndes – Landschaftskunstwerk „7000 Eichen“ in Szene setzte (1982). Im Gedächtnis geblieben ist auch noch Ai Weiwei, der vor zehn Jahren 1001 Chinesen nach Kassel beförderte und seinen vom Sturm umgeblasenen Holztempel als Trümmerhaufen liegen ließ („Das ist besser als vorher.“).

Kunst ist heute oft temporär

Die letzte Documenta 2012 zog mehr als 900 000 Besucher an, aber sich an einzelne der rund 300 von der künstlerischen Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev aufgebotenen Namen zu erinnern, fällt schwer. Das liegt zum einen daran, dass Werke auf Leinwand oder Papier seit Beuys’ „erweitertem Kunstbegriff“ eher die Ausnahme bilden. Kunst, das ist heute oftmals die temporäre Installation oder Performance, Tanz, Video, eine vom Künstler gekochte Mahlzeit oder experimentelle Sound-Collage. Und seit der Blick sich nicht mehr ausschließlich auf die Westkunst richtet, sind zum andern auch die internationalen Stars in der Minderheit.

Okwui Enwezor, der in Nigeria geborene Leiter der Documenta 11, inszenierte 2002 die erste „wirklich globale, postkoloniale“ Kunstschau, die „die unausgesprochenen Aufmerksamkeitshierarchien des westlichen Ausstellungswesens“ infrage stellte, wie es im Katalog heißt, mit vielen hierzulande bis dahin unbekannten Teilnehmern aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Ähnliche Wege beschritten seine Nachfolger. Und nun?

Nun, so mutmaßt mancher Branchenkenner, hat den aus Polen stammenden Direktor der Documenta 14 Adam Szymczyk offenbar eine Sinnkrise erfasst: Was, wenn alle Orte schon erkundet, alle Formate schon ausgereizt sind? Szymczyk, der sich als Co-Kurator der Berlin-Biennale 2008 und Chef der Kunsthalle Basel profiliert hat, beschloss, fremdzugehen und der Documenta ein zweites Standbein in Athen zu verpassen. Kassel verlor damit nicht nur sein Exklusivrecht, sondern musste sich auch noch hinten anstellen. „Von Athen lernen“, lautet die Devise. Wo einst die Wiege der Demokratie stand, im heutigen Kernland der Euro-Kalamitäten und an einem Brennpunkt der Flüchtlingskrise, wollte sich Szymczyk mit einer explizit politischen Documenta, die sich selbst zum Migranten macht, den entscheidenden Fragen der Zeit stellen. Allein, recht zünden will das Athener Experiment in den Augen vieler Kritiker nicht. Mit einigen Ausnahmen bleibe das meiste eher gut gemeint als gut.

„Parthenon der Bücher“ gegen die Zensur

Jetzt, am Ursprungsort der Documenta, werden Besucher der griechischen Kunstschau zwar nicht auf die gleichen Werke, aber fast auf dieselben rund 150 Künstler treffen, denen sie schon zu Füßen der Akropolis begegneten. Wie in Athen bespielen Szymczyk und sein Team die halbe Stadt: Fast alle Museen in Kassel sind dabei, aber auch ein ehemaliges Lederwarengeschäft, ein Kino und die frühere Hauptpost. Der ghanaische Künstler Ibrahim Mahama verhüllt die Zwillingsgebäude der Torwache mit Jutesäcken, auf dem Königsplatz ragt ein Obelisk des Nigerianers Olu Oguibe in den Himmel, der Kambodschaner Khvay Samnang widmet sich in seinen Fotoprojekten dem Umgang mit Ressourcen in Gegenden, die von indigenen Völkern bewohnt werden, während die Argentinierin Marta Minujin am Friedrichsplatz einen „Parthenon der Bücher“ aufgebaut hat, der sich gegen die Zensur richtet. Derweil sind vier Reiter quer durch Europa unterwegs, die das Kunststück vollbringen wollen, in 100 Tagen von Athen nach Kassel zu traben – hoch zu Ross, wohlgemerkt.

Den zentralen Ausstellungsort, das Fridericianum, worin die Documenta 1955 ihre Geburtsstunde erlebte, überlässt Szymczyk dagegen dem griechischen Nationalmuseum für Gegenwartskunst. Ursprünglich wollte der D-14-Chef in dem klassizistischen Bau die Sammlung des Nazikunsthändlers Gurlitt zeigen, bekam von Bonn und Bern, wo gerade an einer gemeinsamen Doppelschau gearbeitet wird, aber einen Korb. Stattdessen nun eine normale Museumssammlung am Ursprungsort der Documenta? Nach Meinung von Experten eine arge Verlegenheitslösung.

Dem öffentlichen Interesse werden die kritischen Einwände kaum Abbruch tun. Die Organisatoren zählten 3500 Akkreditierungsanfragen von Journalisten aus aller Welt, 25 000 Tickets wurden vorab verkauft, und auch die Gastronomie richtet sich auf den Ansturm ein: Auf einem Parkdeck in Innenstadtnähe ist ein Biergarten entstanden, und auch im Garten des historischen Palais Bellevue können Kunstpilger bei Kaffee und Kuchen verschnaufen. Die Hotels im Zentrum von Kassel sind für die ersten Ausstellungswochen so gut wie ausgebucht, die Zimmerpreise laut der städtischen Marketinggesellschaft um 20 Prozent gestiegen. Zu rechnen ist mit einem neuen Besucherrekord, der diesmal die Millionengrenze überspringt.