Im Deutschen Theater in Berlin stellt Angela Merkel ihre Autobiografie „Freiheit“ vor. Die Frau, die Deutschland 16 Jahre lang als Kanzlerin regiert hat, zeigt sich dabei in zwei Rollen, die unterschiedlicher kaum sein könnten.
Angela Merkel beherrscht den kritischen Ton, den sie oft zu hören bekommen hat, perfekt. Sie spricht die folgenden Sätze hart und zieht dabei ihre Stimme etwas nach oben, damit es schön vorwurfsvoll klingt.
„Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gerade die Entscheidung in der Nacht zum 5. September noch einmal als richtig bezeichnet“, liest Merkel vor. „Gleichwohl wird Ihnen in den eigenen Reihen und auch medial sehr oft vorgeworfen, dass Sie mehrere politische Signale ausgesandt haben, die eine übertriebene Aufnahmebereitschaft signalisiert hätten.“ Und die dadurch, so trägt es Merkel weiter vor, Flüchtlinge erst animiert hätten nach Deutschland zu kommen. „Was sagen Sie zu diesem Vorwurf?“
Es geht um Merkels Flüchtlingspolitik. Und es ist die Frage eines Journalisten aus dem Jahr 2015 in einer Pressekonferenz, über die Merkel in ihren Memoiren mit dem Titel „Freiheit“ schreibt. Die frühere Bundeskanzlerin hat das Buch im Deutschen Theater in Berlin vorgestellt, befragt von der Journalistin und langjährigen Talkshow-Moderatorin Anne Will. Es ist ein bemerkenswerter Abend, an dem die Frau, die Deutschland 16 Jahre lang regiert hat, ihren lakonischen Witz immer wieder aufblitzen lässt.
Eine Geschichte ohne Wiederholung
In dem mehr als 700 Seiten umfassenden Buch, das Merkel gemeinsam mit ihrer langjährigen Vertrauten Beate Baumann geschrieben hat, geht es um ihre Regierungszeit – von ihren Anfängen im Amt über die Flüchtlingspolitik bis hin zu Corona. Das ist viel. Und doch geht es um noch mehr.
„Dieses Buch erzählt eine Geschichte, die es so nicht noch einmal geben wird, schon weil es den Staat, in dem ich 35 Jahre gelebt habe, seit 1990 nicht mehr gibt“, schreibt die Frau, die in einem evangelischen Pfarrershaushalt in der DDR aufgewachsen ist. Merkel ist heute 70 Jahre alt, hat also ihr halbes Leben in der DDR verbracht – und widmet dem einen wichtigen Teil ihres Buches. Denn sie ist überzeugt: Wer sie verstehen will, muss beide Teile ihres Lebens kennen.
Merkel – die seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft nur wenig öffentlich aufgetreten ist – zeigt sich an diesem Abend in zwei Rollen. Erstens in der Rolle der Erzählerin, zweitens in der Rolle Verteidigerin ihres eigenen Lebenswerks. Manchmal, aber nur manchmal lässt diese durch und durch beherrschte Frau sogar ganz leicht erkennen, dass sie auch zornig sein kann. Es sind authentische Momente. Solche, in denen man sich vorstellen kann, wie sie in ihrer Regierungszeit gelegentlich die Wand im Büro angeschrien hat. Eine Tatsache, die sie im Gespräch über ihr neues Buch kürzlich dem „Spiegel“ anvertraut hat.
Die Erzählerin Angela Merkel hat das Buch auf ihren Knien abgelegt. Sie liest vor und berichtet von ihren ersten 35 Lebensjahren. Dieser Teil des Buches steckt nicht zuletzt für jeden, der in Westdeutschland aufgewachsen ist, voller interessanter Gedanken und Erzählungen. Er mag auch für alle Jüngeren spannend sein, die über das Leben in der DDR nicht viel wissen können. Merkel beschreibt ihre Überlebensstrategien im Unrechtsstaat. Zugleich macht sie denen, die im Westen gelegentlich geringschätzig auf diejenigen mit Ostbiografien schauen klar: Auch in diesem falschen Staat gab es richtiges Leben, echtes Glück.
Anne Will verweist im Deutschen Theater darauf, dass Merkel lange ihre Identität als Ostdeutsche wenig thematisiert habe. Merkel antwortet, sie habe eine Kanzlerin für alle Deutschen sein wollen. Will zitiert aber auch die Stelle aus dem Buch, in dem es um einen Beitrag in einem Band der Konrad-Adenauer-Stiftung im Jahr 2020 um die CDU-Vorsitzende Merkel geht. „Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biografie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein von der Pike auf sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesdeutscher Prägung sein“, hieß es dort. Merkel schreibt im Buch, es habe ihr den Atem verschlagen, als sie das gelesen habe. Ihre Biografie ein Ballast? Das findet sie unmöglich. Wenn diese Dinge zur Sprache kommen, ist spürbar, dass Merkel zornig auf Dinge schauen kann. Wenn auch ohne Verbitterung.
Merkel will nichts zurücknehmen
In ihrer zweiten Rolle als Verteidigerin ihres politischen Werks hat Angela Merkel das Buch nicht auf den Knien liegen, sondern hält es mit beiden Händen hoch, während sie vorliest. So tut sie es auch, als sie aus dem Kapitel über die Flüchtlingspolitik vorliest, in dem auch von der kritischen Journalistenfrage zu hören ist. Merkel verteidigt aber beispielsweise auch ihre dialogorientierte Politik gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin – und ihre Haltung, der Ukraine in ihrer Amtszeit nicht den Weg in die Nato zu ebenen. Das alles sei, so Merkel, damals im Interesse der deutschen Sicherheit gewesen. Deshalb habe sie davon auch nichts zurückzunehmen.
Die Altkanzlerin übe in ihrem Buch zwar im Kleinen Kritik an sich selbst, gebe aber keine großen Fehler zu, sagt Anne Will. „Oder tue ich Ihnen da Unrecht?“, fragt die Moderatorin. „Ich finde ja“, gibt Merkel zurück. Sie verweist darauf, sie räume doch beispielsweise ein, im Klimaschutz nicht weit genug gekommen zu sein. Merkel betont aber auch, dass sie in Koalitionen vieles nicht so habe entscheiden können, wie sie gewollt hätte. „Wenn’s hilft“, gibt Merkel sich mit sarkastischem Einschlag großzügig, „dann soll man sagen: Die Merkel war’s.“
Merkel blickt, wenn man so will, auf ihre Politik in weiten Strecken wie eine Köchin, die meint: Wenn das Essen gestern geschmeckt hat, soll heute keiner sagen, es hätte noch besser sein können. Oder dass man es mit Zutaten hätte machen sollen, die auf dem Markt gar nicht zu kaufen waren.
Die Sache mit Friedrich Merz
So wie die 70-Jährige Großzügigkeit gegenüber sich selbst walten lässt, versucht sie es an diesem Abend auch, als sie nach CDU-Chef Friedrich Merz gefragt wird, mit dem sie wahrlich keine Freundschaft verbindet. „Man braucht diesen unbedingten Willen zur Macht. Friedrich Merz hat ihn auch. Und deshalb gönne ich es ihm“, sagt Merkel auf die Frage, ob sie es Merz gönne, dass er vielleicht bald Kanzler werde. Zur Forderung des CDU-Chefs nach Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze sagt sie aber, sie halte das für den falschen Weg. „Aber es ist nun mal so, dass er diese Meinung hat, ja.“
Dass Merkel nach wie vor überzeugt von ihrer Sicht auf die Flüchtlingsfrage ist, wird auch klar, als sie im Deutschen Theater ihre berühmte Antwort auf die Journalistenfrage aus dem Jahr von 2015 vorliest. „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“
Damals wie heute ist Entschiedenheit in ihre Stimme. Sie klingt wie jemand, der ganz mit sich im Reinen ist.