Autoexperte Stefan Bratzel „Der deutschen Autoindustrie fehlt die Angreifermentalität“

Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach sieht für die deutsche Autoindustrie große Gefahren. Foto: CAM

Seine Warnungen haben schon dem Bundeskanzler nicht geschmeckt. Vor einem Fachpublikum in Stuttgart hat der bekannte Wissenschaftler nun seine Thesen untermauert – und grundlegende Veränderungen angemahnt.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Matthias Schmidt (mas)

Am Ende gibt es viel Beifall für Stefan Bratzel, anders als noch im November im Kanzleramt. Dort hatte der Wissenschaftler ein Eingangsstatement zum Autogipfel mit Kanzler Olaf Scholz und den Konzernchefs der Branche geliefert. „Der Kanzler hat danach gesagt, er hätte sich das optimistischer vorgestellt“, berichtet Bratzel.

 

Auf Einladung der Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart hat er jetzt die Warnung untermauert, die dem Regierungschef offenkundig nicht behagt hat: Der deutschen Autoindustrie droht angesichts der neuen, vor allem chinesischen Konkurrenz ein gravierender Bedeutungsverlust.

Bratzel verdichtet komplexe Analysen auf griffige Merksätze

Der 57-jährige Badener, gebürtig in Münzesheim im Kraichtal, gehört zu den bekanntesten Autoexperten in Deutschland. Neben der langjährigen Präsenz – er leitet seit 2004 das von ihm gegründete Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach bei Köln – verdankt er dies auch seiner Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge und vielschichtige Marktbeobachtungen auf griffige Merksätze zu verdichten. Die wichtigste Herausforderung für die deutschen Autohersteller beschreibt er beispielsweise so: „Wir müssen mindestens so viel innovativer oder besser sein, wie wir teurer sind.“

Daran, dass dies auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten gelingen wird, hegt er große Zweifel. Sie speisen sich ganz wesentlich aus der Entwicklung in China. Denn das Land ist nicht mehr nur der wichtigste Absatzmarkt, der im Gegensatz zu den USA und Europa, wo es beim Autokauf vor allem um Ersatzbeschaffungen geht, noch nicht gesättigt ist. Den noch jungen chinesischen Herstellern ist es darüber hinaus gelungen, die traditionsreiche Konkurrenz in zwei wichtigen Kategorien zu überflügeln: Export und Innovationskraft.

2023 ist China, so referiert Bratzel, mit 4,14 Millionen Auslieferungen zum weltweit größten Exporteur aufgestiegen – vor Japan (3,98 Millionen) und Deutschland (3,11). Noch bedenklicher aber lesen sich die regelmäßigen CAM-Analysen zur Innovationsfähigkeit der Autohersteller. Nachdem deutsche Konzerne jahrelang die meisten technologischen Neuerungen verbuchen konnten, wird seit 2021 auch dieses Ranking von Chinesen dominiert.

Folglich könnte die Formel, höhere Preise mit besserer Technik zu begründen, bald nicht mehr funktionieren – zumal sich der Vorsprung der Asiaten vor allem in den Zukunftsfeldern Elektromobilität, Batterieproduktion und Software-Entwicklung manifestiert.

„Die anderen sind schneller und besser geworden“

Zwar gebe es auch weiterhin Bereiche, in denen deutsche Hersteller die technologische Spitze markieren, sagt Bratzel und hebt die Pionierleistungen von Mercedes-Benz und BMW bei Assistenzsystemen der Stufe 3 hervor. Dabei kann der Fahrer in bestimmten Verkehrssituationen die Steuerung vollständig an das Auto abgeben und sich anderen Dingen widmen, während die Haftung auf den Hersteller übergeht. Insgesamt aber sei in der deutschen Debatte noch nicht angekommen, wie stark sich die Industrie verändern müsse, um der neuen Konkurrenz Paroli bieten zu können.

Vom viel gerühmten China-Speed sei das Deutschlandtempo weit entfernt, meint Bratzel. „Wir sind zwar nicht schlechter geworden, aber die anderen sind schneller und besser geworden. Zudem verfügten die Newcomer in Shenzhen, Peking oder Shanghai über gut ausgebildete Nachwuchskräfte in großer Zahl, über Entwickler, die im Dreischichtbetrieb arbeiten – und dies zu Arbeitskosten, die um 40 Prozent niedriger lägen als in Deutschland.

Ein Zuhörer sieht den Südwesten in der Phase der Depression

In den Chefetagen der deutschen Hersteller ist dies längst angekommen. Um auf China-Speed zu kommen, bauen sie ihr Engagement vor Ort aus, vergrößern beispielsweise die Entwicklungsabteilungen vor Ort wie Mercedes-Benz oder schließen sich für Neuentwicklungen mit chinesischen Herstellern zusammen wie VW. Die resultierende Gefahr liegt auf der Hand, sagt Bratzel: „Immer mehr Produktion und Entwicklung könnten aus Deutschland abwandern.“

„Wir im Südwesten waren die Krönung der automobilen Schöpfung. Jetzt sind wir in einer Phase der Depression, und die Sparprogramme drücken zusätzlich auf die Stimmung. Wir kommt man da wieder heraus?“, fragt ein Zuhörer nach Bratzels Vortrag. Die Antwort des Experten fällt, da kann man dem Kanzler nachfühlen, wenig erbaulich aus – und sie dürfte vor allem auf Arbeitnehmerseite kaum Beifall finden. „Unser Wohlstands- und Anspruchsniveau ist so hoch, dass es schwierig ist, die nötige Angreifermentalität zu entwickeln. Vielleicht gelingt dies in ein paar Jahren, wenn es uns weniger gut geht“, sagt Bratzel. „Wir müssen die Überzeugung wieder finden, dass wir etwas Neues gut hinbekommen. Aber stattdessen diskutieren wir über Work-Life-Balance, Home-Office und kürzere Arbeitszeiten.“

Der Autoexperte Stefan Bratzel

Laufbahn
 Stefan Bratzel (57) ist Politikwissenschaftler und hat über „Erfolgsbedingungen von umweltorientierter Verkehrspolitik“ promoviert. Nach einer Phase als Produktmanager bei Smart startete er eine Karriere in der Wissenschaft.

Institut
 Bratzel lehrt seit 2004 an der privaten Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach bei Köln. Dort leitet er das von ihm gegründete Center of Automotive Management (CAM).

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