Im Weltall ist er so unverzichtbar wie im Wohnzimmer: Der Christbaum versöhnt uns mit dem Leben, schreibt der Autor Heinrich Steinfest.

Stuttgart - Wir schreiben das Jahr 2093. Weit entfernt von der Erde, genauer gesagt 3,27 x 1014 km, also wirklich sehr weit. Es ist Dezember, auch im Weltraum, und soeben sind die siebzehn Passagiere des Raumschiffs Prometheus nach einem über zweijährigen Tiefschlaf erwacht. Während nun die einzelnen Mitglieder erst so richtig in die Gänge kommen, sehen wir den Kapitän des Schiffs, einen gutgebauten Endvierziger, eine Zigarillo qualmend, wie er letzte Hand an einen kleinen, üppig dekorierten Christbaum anlegt. In diesem Moment tritt die von Charlize Theron gespielte eisig-kalte, unmenschlich blonde Projektleiterin auf, betrachtet Baum und Mann und meint: „What the hell is that?“ (In der deutschen Synchronisation: „Was in aller Welt ist das?“ – hier wird also die Hölle mit Welt übersetzt). Woraufhin der Kapitän erklärt: „Es ist Weihnachten. So hat man nicht das Gefühl, dass die Zeit stehengeblieben ist.“

 

Inmitten der Hightech-Installation des Raumschiffmobiliars und so fern der alten Erde, zu der keiner aus der Besatzung je zurückkehren wird, wirkt der kleine Christbaum mit seinen bunten Kugeln, den metallenen Tannenzapfen, den blinkenden Kerzenleuchten und dem auf der Spitze aufsitzenden Weihnachtsstern nicht nur wie die sentimentale Spur einer fortschreitenden Zeit, sondern überhaupt wie das Zeichen einer Zivilisation, für die das Schmücken von Gegenständen auch Ausdruck einer Empathie ist. Einer Versöhnung mit der Welt.

Der Christbaum ist ein perfekter Statist

Stimmt, wir befinden uns in Ridley Scotts 2012 gedrehtem „Prometheus“, einem Prequel zur Alien-Reihe, das ganz sicher kein Weihnachtsfilm ist. Der Christbaum ist aber auch so gut wie nie Hauptfigur eines Films, dafür aber der perfekte Statist. Wenige Dinge sind so schnell erkennbar wie dieser Baum, auch noch in den tiefsten Tiefen des Raums, und lösen so rasch ein Wohlbefinden aus.

Zu meinen frühen, ungemein deutlich in Erinnerung gebliebenen Erlebnissen zählt jenes, als ich am Weihnachtsabend ins Kinderzimmer verbannt wurde, um dem Christkind die Möglichkeit freien Agierens zu geben. Ich konnte nicht an mich halten und lugte durchs Schlüsselloch. Und sah den Weihnachtsbaum, der soeben erstrahlte, eine feine Explosion von Licht, welche die damalige Werbung bestätigte, wonach gewisse Dinge so weiß sind, weißer geht‘s nicht, und inmitten der Illumination erkannte ich die lichtgeborene Erscheinung meiner Einbildung. Ein Wesen, das sich zu mir hin drehte und zwinkerte. Ungemein real, ganz im Unterschied zu den so gut wie unsichtbaren Eltern.

Kinderglaube zwischen Fantasie und Aufklärung

Selbst als zusehends die Aufklärung zuschlug und ich mir noch als Kind bewusst werden musste, dass Weihnachtsgeschenke nicht als Teil einer übernatürlichen Praxis fungieren, sondern eine Ordnung der Dinge darstellen, die unmittelbar mit der Großzügigkeit und dem Gehaltsniveau von Eltern und Verwandten zusammenhängen – selbst dann noch konnte ich mich nicht ganz von der Vorstellung dieser Lichtgestalt lösen, deren Sichtbarwerden mir als eine Frage des richtigen Hintergrunds erschien. Und den idealen Hintergrund bildet nun mal der Christbaum. (Wie auch in alten Zeiten die Idee bestand, etwa in Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“, man könne Luftgeister erkennen, wenn man, ohne sich blenden zu lassen, bei Sonnenschein fest in den Himmel schaut).

Freilich muß ich bei solcher Hartnäckigkeit der Fantasie auch immer an einen Sketch von Helmut Qualtinger denken, in dem er eine Figur namens Travnicek verkörpert, die verärgert erklärt, in den vergangenen Jahren in Gestalt des Weihnachtsmanns seine Nichten und Neffen aufgesucht zu haben, worauf die Kinderschar stets lachend meinte: „Schau, der Onkel Travnicek, verkleidet als Weihnachtsmann!“. Darum sei er, Travnicek, in diesem Jahr ohne Verkleidung erschienen, was die selben Kinder veranlasst habe, auszurufen: „Schau, der Weihnachtsmann, verkleidet als Onkel Travnicek!“.

Indem wir einen Toten dekorieren, feiern wir die Vielfalt des Lebens

Natürlich, mitunter ist es die Einsamkeit, die gerade am Heiligen Abend besonders schmerzt, und ein deutliches Zeichen der Einsamkeit sind dabei die kleinen Weihnachtsbäume, die aus einer praktischen Vernunft heraus auf dem Tisch landen, mit einer Anmutung zwischen Kaktus und bemaltem Pinguin. Ein Weihnachtsbaum nämlich sollte groß sein, sollte am besten bis zur Decke reichen, und dort, wo Kinder sind, wird auch kaum darauf verzichtet, sich einen „Riesen“, zumindest einen großgewachsenen Baum ins Zimmer zu stellen. Der kleine Baum ist oft eine Reminiszenz, ein Schatten aus der Vergangenheit, eine Verlegenheitslösung derer, die allein feiern oder ohne ihre Kinder, weil die nicht mehr Kinder sind und weit weg.

Es ist dabei ein schwacher Trost, dass kleine Bäume weniger Nadeln verlieren. Praktische Erwägungen erscheinen geradezu als Widerspruch zum Wesen des Weihnachtsbaums, dieser gezähmten und domestizierten Pflanze, die eigentlich ein Toter ist, von uns aber so prall und grell und glitzerreich beladen wird, als wollten wir ein Prinzip der Natur, nämlich alles auszuprobieren wie in einem Korallenriff, in dieses gefällte Gewächs zwingen. Indem wir einen Toten dekorieren, feiern wir die Vielfalt des Lebens.

Vor dem Baum findet die Familie zur Idylle zusammen

Denn dort, wo die Familien zur weihnachtlichen Einheit verschmelzen, und sei’s im Disput, muss es mächtig und ausladend zugehen. Ganz wunderbar gezeigt in der österreichischen Fernsehserie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, wo das Familienoberhaupt einen viel zu großen Baum kauft, der nur liegend, aber nicht stehend ins Wohnzimmer passt. Die Versuche, die „echte Tanne“ auf das Stehkreuz zu montieren und sie mittels Sägung auf eine raumgerechte Größe zu bringen, führen dabei zu einer Dreiteilung des Baums. Trinität. Wie auch die Personen selbst sich anfangs im Zuge verschiedener Streitigkeiten in verschiedene Richtungen verteilen, um letztlich doch noch vor dem glücklich aufrecht stehenden und standesgemäß dekorierten Baum zusammenzufinden und die Idylle gemeinsamen Singens zu erleben.

Christbäume müssen sich ja nicht nur einiges anhängen lassen, sondern auch einiges anhören. Sie sind Zeugen unseres guten und schlechten Geschmacks, unserer Liebe zum Grün und unserer Liebe zum Licht, zum guten Essen und zum lieben Gott. Und sie beobachten uns auch, wenn wir fürsorglichst bereitete Geschenkverpackungen mittels zeitrafferartiger Entblößungstechniken in ein Meer aus Papierknäueln verwandeln.

Dass wir die nadeligen Zeugen bald darauf auf Sammelstellen ablegen . . . Nun, das Beste an Weihnachten ist, dass es sich wiederholt. Mindestens bis ins Jahr 2093.

Der Autor Heinrich Steinfest, geboren 1961 in Albury, Australien, aufgewachsen in Wien, lebt in Stuttgart und ist für seine Romane vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Deutschen Krimipreis und dem Heimito-von- Doderer-Literaturpreis. Zuletzt erhielt er den Bayrischen Buchpreis für „Das Leben und Sterben der Flugzeuge“, seinen jüngsten Roman.