Strauchelnde Helden waren sein Spezialgebiet: In gut zwanzig Romanen hat der in Mannheim geborene Wilhelm Genazino das Unvollkommene zur Perfektion gebracht. Nun ist er mit 75 Jahren gestorben.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Würde man den Roman eines Menschen lesen wollen, dem alles gelingt? Der jede Situation daraufhin befragt, wie sein Selbstgefühl zu steigern sei, der die Welt der eigenen Anschauung unterwirft und in der Verfolgung seiner Interessen über Leichen geht? Lieber liest man doch von Helden, denen alles daneben geht, die mit den ungefügigen Gegebenheiten ihres Lebens im Clinch liegen und deren unerfüllter Glücksanspruch sich stolz den Beschwichtigungen glanzloser Alltäglichkeit entgegenstellt. Niemand hat von ihnen so virtuos und besessen erzählt wie der Erfinder des bundesdeutschen Angestelltenromans Wilhelm Genazino.

 

Strauchelnde Protagonisten waren sein Spezialgebiet. Menschen wie Anke Bünnagel aus dem Buch „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“. In den fünfziger Jahren sind so genannte Je-ka-mi-Abende beliebt gewesen, die man später Karaoke nannte: Jeder kann mitmachen. Genazino beschreibt, wie ein solcher Abend ablief, wie schüchterne Hausfrauen sich ihren Traum vom Catarina-Valente-Sein ganz kurz erfüllten – zur höhnischen Genugtuung des Publikums. „Sie sang das Lied ‚Ganz Paris träumt von der Liebe’. Das letzte Wort zog Frau Bünnagel derart in die Länge, dass es kläglich und jammervoll klang.“

In unermüdlichen Anläufen hat der Virtuose des Scheiterns der schäbigen Gegenwart immer neue groteske Beweise des zugrundliegenden Missverhältnisses von Verlangen und Befriedigung abgetrotzt, die seine Figuren bei ihren Streifzügen durch die Unwirtlichkeit der Welt einsammeln. Sein eigener Weg vom Journalisten zum Dichter war nicht geradlinig, zielstrebig dagegen schon. Er wurde 1943 in Mannheim in jene Sphäre hineingeboren, die er später in seiner Abschaffel-Trilogie verewigte, mit der in den siebziger Jahren sein Aufstieg begann: die Welt des bescheidenen Überlebenskampfes der kleinen Leute. Nach seinem Studium der Philosophie und Soziologie in Frankfurt, das der Schauplatz seines weiteren Wirkens bleiben sollte, schlug sich Genazino als freier Zeitungs-Mitarbeiter durch. 1971 wurde er Redakteur bei der Frankfurter Satire-Zeitschrift Pardon.

Probeläufer für Luxuxhalbschuhe

Später, als freiberuflicher Schriftsteller, machte er mit der Prekarisierung von Lebensformen seine eigenen Erfahrungen. Sie prägen das Dasein seiner sich mit windigen Jobs durchschlagenden Helden: verkrachte Schauspieler, Radiosprecher oder wie in „Ein Regenschirm für jeden Tag“ Probeläufer für Luxushalbschuhe.

„Ich war der Meinung, nach diesen Romanen, die als rücksichtslose Selbstaufklärungen angelegt sind, könne die Gesellschaft nicht mehr auf dieselbe Weise mit sich einverstanden sein wie zuvor“, sagte Genazino einmal. „Doch der einzige, der mit Sicherheit von diesen Romanen erzogen worden ist, war ich selbst.“ Und so perfektionierte er die Betrachtung des Unperfekten in gut zwanzig Werken, in denen die Sehnsucht nach Bedeutsamkeit wieder und wieder an der schreienden Mittelmäßigkeit der Verhältnisse zerschellt. 2004 wurde ihm für diese immer wirkungsvoller und komischer zelebrierte Kunst der Büchner-Preis verliehen.

Humor, hielt Schopenhauer einmal fest, beruht „auf einer subjektiven, aber ernsten und erhabenen Stimmung, welche unwillkürlich in Konflikt gerät mit einer sehr heterogenen, gemeinen Außenwelt.“ In solchen Fügungen des Nicht-Übereinstimmenden ist Genazino in seinem Element. Und je grauer sich die Verhältnisse zeigen, desto funkelnder sind die humoristischen Kabinettstückchen, die er ihnen abgewinnt.

Hier freilich lauert auch ein Problem, das in seinen letzten Romanen immer virulenter wurde: Nicht, dass unsere Wirklichkeit nicht heterogen oder gemein genug wäre. Genazino aber kultivierte ihre Mängel zusehends mit dem Eifer eines Kleingärtners: Je mehr Enttäuschung, desto höher der Ertrag an drolligen Früchten der Skurrilität. Das konsumistische Verhältnis zur allgemeinen Tristesse machte die Welt, die Genazino so hyperrealistisch beschrieben hat, zu einem Treibhaus, und seine melancholischen Stadtstreicher drohten, von Repräsentanten zu Kunstfiguren zu werden.

Bei dem Festival des Scheiterns im Literaturhaus Stuttgart konnte man vor drei Jahren Genazino als Rampensau des Losertums erleben. Er schwelgte in seinen „völlig missglückten“ schriftstellerischen Anfängen. Öffne er heute noch gewisse Schubladen, ströme daraus ein süßer Duft des Scheiterns, verriet er dem betörten Publikum. Was bleibe anderes übrig, „als in Ruhe und Frieden auf die schreckliche Zuspitzung des Lebens zuzuwanken“.

Nun ist dieser Weg an sein Ende gekommen. Nach kurzer Krankheit ist Genazino am Freitag in Frankfurt gestorben. In einer Welt der grassierenden Selbst- und Fremdoptimierung werden seine melancholischen Stadtbeschreibungen, die Bilder vernutzer Alltagserfahrungen und ernüchternder Liebesakte schmerzlich fehlen.