Kultur: Stefan Kister (kir)
Neben der braunen Vergangenheit ist eine weitere Stoffschicht die schwarze Romantik. In Ihrem Buch werden schlimme Märchen erzählt. Hängt das eine mit dem andern zusammen?
Diese Linie von der schwarzen Romantik zum Nationalsozialismus würde ich nicht so direkt ziehen. In den Märchen der Brüder Grimm siegt am Ende das Gute, anders als in den Geschichten, die De Ruit als Kind erzählt bekommt.
Dass die Erzählerin einen Teil ihrer Geschichte träumt oder in Büchern liest, erinnert an Tiecks Schauermärchen „Der blonde Eckbert“, dessen Hund durch den Roman stromert.
Nicht umsonst ist der Hund Stromian ein steter Begleiter. Tiecks Märchen handelt vom Verlust des Verstandes, von der Einsamkeit des Einzelnen in der Welt und an der Seite von vertrauten Menschen. Ähnliches widerfährt meiner Heldin Anita: Warum ruft sie niemanden an? Warum wendet sie sich nicht an ihre Freunde? Tieck hat hier ein großartiges Panorama des modernen Seelenzustands entworfen.
Sie rücken die Lust an der Verwandlung in die Nähe des Schreibens: das Vermögen, Personen handeln zu lassen wie Puppen.
Kinder lieben es, sich zu verkleiden, in andere Rollen zu schlüpfen. Natürlich ist dieses Spiel für mich auch großartig. Auf dem Papier ist mir gestattet, was im Leben nicht geht. Wenn Anita so handelt, erschrickt sie zunächst darüber, dass es funktioniert, gibt sich aber diesem Zauber mit hemmungsloser Neugier hin.
Haben Sie auch schon einmal in den Kleidern Ihrer Mutter gesteckt?
Meine Mutter hatte ein bodenlanges Nachthemd mit Blümchenmuster, das ich sehr geliebt habe und immer benutzen durfte. Aber sich an den Eltern zu reiben, Streit zu haben, um sich selbst zu finden, halte ich für extrem wichtig. Es gibt keinen guten Roman, in dem sich die Figuren nicht auf diese Weise entwickeln. Das tut Anita ja auch, aber erst, als ihre Eltern aus dem Weg sind. Die Alten müssen zurücktreten, um den Jungen das Aufblühen zu ermöglichen.
Am Schluss ist das ja der Fall, wenn die Eltern zu freundlichen Puppen geschrumpft sind.
Das ist ein für meine Verhältnisse optimistischer und versöhnlicher Schluss. Anita sollte rausgehen ins Leben, sei es schwer oder leicht, bereit für alles, was kommt.
Ansonsten ist vieles so pessimistisch, wie man Sie kennt.
Ich bin jemand, der gerne hinlangt. Es gibt eben die dunklen Seiten.
Sie selbst wirken aber gar nicht so dunkel wie Ihre Bücher.
Ich bin ein lebensfroher Mensch. Trotzdem gilt, was meine Großtante aus Nürtingen immer sagt: Unter jedem Dach ist ein Ach. Das Leben ist nicht einfach. Es ist meine Aufgabe, das zu zeigen. Mit meinen Büchern legt man sich nicht ins Schaumbad. Ich möchte, dass die Leute darüber nachdenken, dass unsere Existenz endlich ist, dass es Unglück und Ärger gibt, aber auch, dass man da wieder herausfinden kann, durch Liebe und Fantasie.
Eines der charakteristischen Motive Ihres Schreibens ist die Vermittlung des Lebens durch die Literatur.
Literatur ist meine Religion. Ich könnte alles ertragen, aber nicht ohne Bücher leben. Lesen zu können und so viele Welten zu erobern, ist der größte Schatz. Ich bedaure jeden, der nicht gerne liest, weil das so eine enorme Freiheit schenkt.