Das neue Werk der Stuttgarter Autorin Anna Katharina Hahn führt an einen ungewohnten Schauplatz: an die Puerta del Sol in Madrid. Doch Deutschland hat die Autorin fest im Griff, auch nachts im Schlaf.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart – Ein Stuttgarter Lokal in der Nähe der Orte, die Anna Katharina Hahns ersten Roman auf die Hochlagen der deutschen Gegenwartsliteratur gehievt haben: für das Treffen hat sie sich extra ein schönes Kleid angezogen, passend zum Titel ihres neuen Romans. In dem „Kleid meiner Mutter“ sind so viele Fäden verwoben, aktuelle, geschichtliche, literarische, dass es schwerfällt, einen davon herauszulösen. Andererseits: wo alles mit allem zusammenhängt, ist es eigentlich egal, womit man beginnt. Alle führen ins Zentrum – und früher oder später nach Stuttgart.

 
Frau Hahn, in Ihrem Roman muss sich während eines Interviews ein skeptischer Journalist als „Arschloch“ beschimpfen lassen, weil er Zweifel am Vorhandensein eines Autors hegt.
Dieser Journalist unterstellt, dass alles an dem geheimnisvollen Autor De Ruit, der durch meinen Roman geistert, nur eine Erfindung ist. Das ist ein Spiel, was mir viel Spaß gemacht hat. Anders als der Kollege in dem Roman haben Sie aber das Glück, dass ich Ihnen leibhaftig erschienen bin.
Bevor wir uns mit den dämonischen Zügen beschäftigen, die man mit leibhaftigen Erscheinungen verbinden könnte, bleiben wir zunächst einmal an der realistischen Oberfläche. Ihr Roman beginnt mit der aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Krise in Spanien. Wie sind Sie von Stuttgart, dem Schauplatz Ihrer bisherigen Bücher, nach Spanien gelangt?
Ich liebe das Land und hatte das Glück, es durch Freunde ein wenig von innen kennenzulernen. Das war noch vor der Wirtschaftskrise. Spanien hat sich inzwischen verändert, genau wie meine Freunde. Sie haben sich politisch engagiert und viele traurige Geschichten erzählt. Jetzt ist dieses Thema etwas aus dem Fokus geraten, auch wenn die Arbeitslosigkeit nicht sonderlich zurückgegangen ist, trotz eines leicht erholten Wirtschaftswachstums. Doch obwohl der Roman so beginnt und es mir ein Anliegen war, die generación cero ins Licht zu rücken, sollte es kein realistischer Spanien-Roman werden. Den können andere viel besser schreiben und haben es auch getan.
Die Illusion, dass das ein realistischer Roman wird, zerschlagen Sie schnell. Was ganz lebensnah beginnt, wird rasch immer fantastischer und führt vom lichten Spanien ins dunkle Deutschland.
Dazu muss ich eine etwas kitschige, aber auch schöne Geschichte erzählen: Ich war eigentlich mit einem anderen Buch beschäftigt, mehrere Kapitel waren bereits fertig. Da hatte ich einen Traum. Ich habe die Geschichte der jungen Anita, deren Eltern sterben und zu Puppen schrumpfen, tatsächlich geträumt. Bei mir sind Träume selten und wenn ich mich an sie erinnere, handeln sie meist von banalen Dingen. Aber dies war ein völlig plastisches Erlebnis.
Und dann haben Sie das aufgeschrieben?
Ich dachte, dass daraus vielleicht eine Novelle werden könnte. Aber als ich damit begann, kamen immer mehr Ideen: dass das Mädchen die Kleider der Mutter anziehen, in ihre Rolle schlüpfen könnte. Plötzlich war ich mittendrin. Dazu kam der sehr wichtige deutsche Teil. Bald habe ich gemerkt, dass ich vieles einbringen konnte, was mich schon lange beschäftigt hat. Ich habe beim Schreiben schon die tollsten Erfahrungen gemacht, aber dass es im Schlaf zu mir kommt, ist mir noch nie passiert. Es ist ein sehr kostbares Erlebnis.
Die Heldin Ihres Romans erkundet im Kleid ihrer Mutter die Geschichte der Eltern, ihre Fehltritte und Geheimnisse und stößt dabei auf den bereits erwähnten Schriftsteller De Ruit, in dessen Namen sich ihr Geburtsort Ruit auf den Fildern wiederfindet.
Diesen Spaß habe ich mir erlaubt. De Ruit ist mein Supermann, der alles in sich vereint, was ich nicht sein kann. Ich bin jemand, der es liebt, sich zu verkleiden. Als ich früher einmal, um Geld zu verdienen, geputzt habe, war es frappierend, wie unterschiedlich man behandelt wird, wenn man einen Kittel trägt und schwere körperliche Arbeit verrichtet. Masken finde ich faszinierend. Für eine Frau ist es verlockend, sich vorzustellen, so ein allmächtiger Kerl zu sein wie dieser Schriftsteller.