Ihre Lyrik ist preisgekrönt. Jetzt hat Nora Bossong wieder einen Roman geschrieben. Er schildert den Niedergang einer Familie und spielt in der Welt der globalen Wirtschaft. Die StZ-Autorin Ulrike Frenkel ist der Schriftstellerin begegnet.

Frankfurt am Main - Wenn Nora Bossong von ihrem neuen Roman erzählt, und das muss sie ziemlich oft, weil sie als „Stimme ihrer Generation“ gilt, redet sie über dessen Figuren, als stünde sie direkt neben ihnen. Sie erläutert ernsthaft, was ihnen widerfährt, wie sie empfinden, warum sie so handeln, wie sie handeln. Und sie stellt Fragen, an sich, an die Welt und an ihre Zuhörer. „Ich wollte wissen“, sagte sie kürzlich in Frankfurt, wo sie einen schönen Farbtupfer zwischen grauen Anzugträgern abgegeben hat, „wie das ist, wenn jemand von oben nach unten will und nicht durchkommt.“ Eine Art Umkehrung des „Großen Gatsby“ habe ihr beim Schreiben vorgeschwebt, eine Geschichte aus der Welt der Wirtschaft, die man vielleicht nicht direkt mit der für ihre Gedichte preisgekrönten jungen Frau zusammenbringen würde. Dabei kann sie auch ganz anders.

 

Für „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ recherchierte sie die harten Fakten während Stipendienaufenthalten in New York und in China, außerdem hat sie sich in der Welt der Unternehmen umgesehen. „Je mehr Details ich aufsammele, desto besser kann sich meine Fantasie daran entzünden“, sagt sie. In ihrem Dreihundertseiter geht es um ein Familienunternehmen in der vierten Generation, um die Geschichte der Bundesrepublik, die Globalisierung und um eine Tochter, die ein schweres Erbe antritt. Komisch, dass manche Kritiker geschrieben haben, ihr Roman handle von Vätern und Söhnen. „Also für mich steht die Beziehung von Kurt und Luise Tietjen absolut im Vordergrund“, sagt Bossong selbst. Wie Vater und Tochter versuchen, sich einander anzunähern, obwohl sie in dem leistungsorientierten Umfeld ihrer Sippe nie gelernt haben, Gefühle zu zeigen, das hat sie interessiert. Die Geschichten über die vorhergehenden Generationen, den autoritären Firmengründer Justus, seinen windschlüpfigen Nachkommen Kurt senior und dessen schwachen Sohn Kurt junior, dienten in ihrem Buch „eher zur Grundierung für das, was zwischen den beiden abläuft“.

Der Ton ist anders als in „Buddenbrooks“

Sie habe „den Niedergang einer Familie“ in unserer Zeit schildern wollen, ein hohes Ziel, an dem sie nicht gescheitert ist. Durchaus selbstbewusst lehnt sie sich ja noch einmal an einen männlichen Kollegen an, diesmal an Thomas Mann und seine Kurzbeschreibung der „Buddenbrooks“. Ihr Ton allerdings ist ein ganz anderer als der des Lübeckers. Die gebürtige Hamburgerin, die beim Heranwachsen in Norddeutschland „das Kaufmännische im Hanseatischen sehr dominant“ fand, schreibt oft knappe Sätze, manchmal dokumentarisch, manchmal beschwörend. Kein Schwulst, nirgends. Ihre Hauptfigur Luise, eine junge Frau, die gerade an ihrer Magisterarbeit über Max Horkheimer gesessen ist, muss überstürzt in die Rolle der Chefin der Firma Tietjen & Söhne hineinwachsen, weil der Vater, Kurt, nach New York verschwindet, nachdem er den Laden gemeinsam mit seinem Schwager in die Insolvenz gefahren hat. Er will raus aus der Verantwortung und der gesellschaftlichen Sonderrolle, die ihn zeitlebens lähmte. Luise aber, das einzige Kind ihrer Eltern, ist fest entschlossen, die Fertigung von Frottierwaren, die längst im Fernen Osten stattfindet, nicht aufzugeben, und reist immer wieder über den Ozean, um zu retten, was zu retten ist.

Zu Hause in Essen verlässt sie bald nur noch nachts ihr Büro, ihre Gefühle kommen bei dieser Art Leben zu kurz, das merkt sie bald. Warum sie sich das antut? Anders als ihre Mutter, die ein Leben als reiche Gattin geführt hat, gehöre die junge Frau im Buch zu der Generation, in der sich Frauen „zum ersten Mal nicht mehr rechtfertigen müssen, wenn sie arbeiten, sondern sich eher rechtfertigen müssen, wenn sie sich zum Beispiel entscheiden, Mutter zu werden und zu Hause zu bleiben“, erklärt Nora Bossong. „Das ist ja wiederum heutzutage kaum noch akzeptiert.“

Mit scharfem Blick beobachtet

Sie fand es spannend, diese Entwicklung mit scharfem Blick zu beschreiben, „Ausnahmen gab es ja schon länger, aber wir sind die Ersten, die das in großer Zahl so erleben“. Orientieren sich die zu dieser Generation Gehörigen manchmal zu sehr an den Männern, wenn sie ihren Platz in der Welt suchen? Im Roman war Luise Tietjens Tante seelisch daran zerbrochen, dass sie weder ein Kind bekommen konnte noch in das Unternehmen eingebunden wurde, ihre Mutter gab die kühle, gelangweilte Hausherrin. Die Tochter wiederum, sagt Nora Bossong, müsse sich nun mit den Hinterlassenschaften der Männerherrschaft im Betrieb herumschlagen. Wo sie auch hingehe, bekomme sie die Rituale einer maskulin dominierten Struktur zu spüren und reproduziere sie auf eine Weise, die ihr selbst nicht förderlich sei.

Die Vorbilder sind immer noch die Väter

Bossong schildert das sehr nuanciert, bei ihren Recherchen, erzählt sie, „kam mir der Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Führungsstil in Unternehmen gering vor“. Eigentlich, sagt die Wahl-Berlinerin, hätte sie sich gewünscht, dass der Umbruch, der in den vergangenen dreißig Jahren in Bezug auf die Geschlechterrollen stattgefunden hat, „die Art und Weise, wie wir über Wirtschaft oder über Führung nachdenken, auch mehr verändern würde“. Aber „die Vorbilder, die wir haben“, sagt sie, „das sind eben doch noch unsere Väter“.

Auch davon handelt ihr Roman. Ist Schreiben für Bossong auch ein Weg, von anderen zu erzählen und damit die eigene Situation auszuloten? „Ich habe schon als Mädchen gerne für Geschichten, die man mir vorlas, einen anderen Schluss erfunden“, sagt sie. Dass Schreiben dann ihr Beruf wurde, sei „eher so passiert“, weil sie schon während ihres Studiums einige Preise gewann. Abwechselnd Lyrik und Prosa zu verfassen, empfindet sie als Geschenk: „Mein Gefühl für Sprache wird durch diesen Wechsel von einem zum anderen immer wieder geschärft.“ Ob sie davon auf Dauer wird leben können und wollen, weiß die Dreißigjährige noch nicht so genau. Sicherheit, das ist der Grundton ihres starken, selbstbewussten Tochterbuchs, hat die Vätergeneration den Nachfahrinnen nicht vererbt.

Literatur und Wissenschaft

Nora Bossong, Jahrgang 1982, hat Kulturwissenschaft, Philosophie und Komparatistik in Berlin, Potsdam und Rom sowie Literatur am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. Für ihren Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ hat sie im vergangenen Jahr den Peter-Huchel-Preis erhalten. „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ ist nach „Webers Protokoll“ und „Gegend“ ihr dritter Roman. Er ist im Hanser Verlag, München, erschienen (296 Seiten, 19,90 Euro). Essen, New York und China sind die Schauplätze.