Sie schrieb Biografien über Helmut Schmidt und Joschka Fischer. Jetzt hat unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger Episoden aus ihrer eigenen Lebensgeschichte nachgezeichnet. Die renommierte Publizistin erzählt von ihren beruflichen Anfängen bei der Stuttgarter Zeitung.

Stuttgart - Die Schüler nannten ihn Vatti. Doch der Rektor des Progymnasiums von Vaihingen an der Enz war mehr. Er war ein typischer Vertreter des ungebrochenen Patriarchats in der Nachkriegszeit, ein Schulgott, faszinierend und zum Fürchten. Mit dieser Sorte Herrscher musste sich Sibylle Krause-Burger auch später immer wieder auseinandersetzen.

 

Die Macht des Schulgottes hatte nur bis zum sogenannten Einjährigen gereicht. Um diesen Abschluss zu erreichen, musste man eine Prüfung ablegen, wer sie bestand, war mit der Mittleren Reife ins Leben oder in eine weiterführende Schule entlassen. Mehr konnte unser Progymnasium nicht bieten. Wollte man das Abitur machen, so hieß es fahren: nach Mühlacker, auf ein gemischtes, sehr provinzielles Gymnasium, gerade mal zehn Kilometer entfernt von unserer kleinen, mittelalterlichen Stadt, oder nach Ludwigsburg auf eine reine Mädchenschule – grauenhafter Gedanke! – oder aber nach Stuttgart auf das Wirtschaftsgymnasium, das gerade sehr in Mode war. Das war mein Weg.

Sibylle Krause-Burger Foto: dpa

Mit etlichen anderen Schülern aus meiner Klasse entschied ich mich für das Letztere. Im Alter von knapp 17 Jahren wollte ich ja noch Tänzerin werden oder Pianistin oder Soubrette, nach wie vor eine Art Marika Rökk, oder Sängerin oder Kabarettistin, aber vielleicht doch mehr Tänzerin, auf alle Fälle eine Künstlerin, die auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten. Daran gab es keinen Zweifel, und mein sanfter, musischer Vater widersprach nicht energisch genug, befand aber immerhin, die Kenntnisse vom Wirtschaftsgymnasium, wozu nicht nur Finanzmathematik und Buchhaltung, sondern auch Stenografie und Maschinenschreiben gehörten, würden mir im Notfall helfen, das Lebensnotwendigste zu verdienen – „wenn du gerade mal als Zweite von links in der dritten Reihe des Corps de Ballet tanzen darfst“.

Dieser Satz hat sich mir eingebrannt. Ich sah sie vor mir, diese Balletttruppe, die Mädchen wie Puppen aufgereiht und ich ganz hinten links. Bei aller Leidenschaft fürs Tanzen, das wollte ich nicht. Bald war mir auch klar, dass die Arbeit mit den Beinen spätestens im Alter von dreißig Jahren zu Schwierigkeiten führen könnte. Doch nicht nur, weil jemand mit dreißig für eine Siebzehnjährige schon steinalt, also gar nicht mehr vorstellbar ist, beschloss ich, statt auf die Beine auf den Kopf zu setzen. Der würde dem Prozess des Alterns ein bisschen länger standhalten.

Tröstende Träume

Warum nicht Journalistin werden, zeitungsbegeistert wie ich war? Da könnte ich meine Sprachbegabung einbringen, dazu meine musischen Interessen und Kenntnisse, könnte aus dem Ausland von Theateraufführungen und Konzerten, aber auch über Politik berichten, obwohl die politischen Themen erst einmal nicht im Vordergrund standen. Aber ich konnte schreiben. Meine Aufsätze und Briefe waren nicht schlecht. Prosa war mein Fach. Zu dichten versuchte ich freilich nie.

Doch so oder so: Ich musste Fahrschülerin werden. Das bedeutete, um fünf Uhr aufzustehen, zu Fuß zum Bus, mit dem Bus zum Bahnhof und mit dem Bummelzug 45 Minuten nach Stuttgart, dort noch 20 Minuten in der ruckeligen und allemal total überfüllten Straßenbahn bis zu unserer Schule. Das war keine reine Freude und den Noten erst einmal auch nicht sonderlich bekömmlich.

Im letzten der drei Schuljahre mieteten meine Eltern mir ein Zimmer in der Landhausstraße bei einer unfreundlichen alten Person, sehr evangelisch, mit dem zum Glauben passenden Dutt auf dem Hinterkopf. Abends war ich ziemlich allein, fuhr dann bisweilen doch lieber nach Hause, als bei der garstigen Alten zu nächtigen. Meistens hielt ich aber durch, turnte morgens und abends meine Ballettübungen ab und tröstete mich mit ein paar Träumen.

Einen davon träumte ich an jedem Stuttgarter Morgen. Von meiner Bude zur Straßenbahn ging es nur eine der vielen langen Stuttgarter Treppen hinunter. Mein Stäffele führte zu einem kleinen Platz, dem „Stöckach“. Und direkt gegenüber der Haltestelle stand – und steht – das Gebäude, das früher einmal der Post gehört hatte und jetzt der Staatsanwaltschaft dient, damals jedoch Sitz des Süddeutschen Rundfunks war, eines kleinen, wunderbar freien Senders, zu dem die großartige Big Band des Erwin Lehn gehörte und auf dessen Welle man die spannenden Kommentare von Klaus Mehnert über die Sowjetunion und den Fernen Osten hören konnte. Es war ein Ort der Berühmtheiten jener Zeit, auch Martin Walser arbeitete dort, war aber noch lange völlig unbekannt. Fast jeden Morgen stand ich davor. Und wie ich so dastand und auf meine Straßenbahn wartete, träumte ich, irgendeiner dieser berühmten Menschen aus dem Hause SDR käme aus dem Tor, sähe mich, wäre von mir fasziniert, von meiner Erscheinung, meinem Esprit, würde erkennen, was alles in mir steckt – und mich entdecken. Ja: „entdecken“. Wofür? Für irgendeine Star-Rolle, versteht sich. Welche, das wusste ich nicht, und es war auch ganz egal. Ich war hübsch und begabt, und der Sender würde meine Bühne sein. Basta. So ging das Morgen für Morgen, und es war auch nicht schlimm, dass die erwarteten Promis nicht auftauchten, um sich schnurstracks auf dieses junge, weibliche Genie zu stürzen. Ihr Ausbleiben hielt meine Träume am Leben. Und dann kam ja auch immer die Straßenbahn.

Studieren oder volontieren?

Soll das Mädchen studieren oder volontieren? Sie soll erst studieren, dann volontieren, meinte ein leitender Redakteur bei der von mir als Ziel für spätere Wirkungen heiß ersehnten Stuttgarter Zeitung – ein überregional beachtetes Blatt mit einer Crew von hochbegabten Journalisten, fast ausnahmslos Männer, die ihrem Metier wie dem Alkohol gleichermaßen ergeben waren und unter der kritischen Textaufsicht des Herausgebers Joseph Eberle, alias Sebastian Blau – Verfasser wunderbar schwäbischer und lateinischer Gedichte –, ein für die Verhältnisse jener Zeit tolles und hoch erfolgreiches Blatt machten. Drei Frauen, immerhin, durften mitwirken, zwei davon streitbar wie Else Goelz, die eine bis dahin unbekannte Filmseite betreute. Die andere, Annemarie Hassenkamp, von panzerhafter Statur und entsprechender Durchsetzungsfähigkeit, war für den Reiseteil zuständig. Und schließlich die betuliche Isolde Neidlein, die Dritte im Bunde, der die Frauenseite oblag.

Das Gespräch mit dem Zeitungsmächtigen, zu dem mein Vater mich geschleppt hatte, fand natürlich nicht in der Redaktion statt, sondern in einer Kneipe, unweit des 19 Stockwerke hohen Tagblattturms. Es endete nach einer guten Stunde in einer Flut nicht mehr klar zu trennender und zu wertender Aussagen. Volontieren oder studieren? Studieren oder volontieren? Der hohe Herr Redakteur sprach immer undeutlicher, Vater und Tochter wussten schließlich nicht mehr, was sie von alldem halten sollten. Wir einigten uns dann, trotz der Verwirrungen und Verirrungen, auf das Verdikt des Studierens.

Also auf nach Tübingen, um mich zunächst für die Fächer Geschichte, Englisch und Romanistik zu immatrikulieren. Ich hatte ja den Posten einer Auslandskorrespondentin im Hinterkopf, bevorzugt den in Paris. Schwerpunkt Kultur. Aber im Sommer und Herbst des Jahres 1956 absolvierte ich dann doch ein Kurzvolontariat. Allerdings nicht bei meiner angebeteten Stuttgarter Zeitung, sondern bei einem „Käsblättle“ vom Rande der Stadt namens „Zuffenhausener Heimatrundschau“.

Glocken für die Auferstehungskirche

Dort gab es einen einzigen Redakteur, einen kleinen Mann, mit einem Durchschnittsgesicht, einer bräunlichen Durchschnittshaarfarbe, einer Durchschnittsintelligenz und einer sozialdemokratischen Durchschnittsgesinnung. Er saß in einer dunklen Redaktionsstube, musste alles selbst machen und konnte meine Mitarbeit sehr gut gebrauchen. Deshalb durfte ich auch gleich ganz wichtige Artikel schreiben. Ich berichtete, dass Zazenhausen eine neue Telefonzelle und endlich auch ein neues Leichenhaus bekommen würde. Ich schrieb über Verbesserungen am Asyl für Tiere im Feuerbacher Tal oder über Glocken für die Auferstehungskirche in Rot – „Der Guss ging gut vonstatten – bald wird ihr Ruf erklingen“. Halleluja! Höhepunkt meiner Tätigkeit war der Besuch einer Pressekonferenz mit Maria Schell, wo ich neben dem Kollegen Günter Kriewitz von der Stuttgarter Zeitung saß und mich natürlich in Gedanken in dessen Rolle versetzte. Mein Redakteur gönnte mir dieses Vergnügen. Er ließ mich auch über den Film „Anastasia“ mit Lilli Palmer schreiben.

Das gab es freilich nicht ganz umsonst. Für so viel Wohlwollen sollte ich ihn nach des Tages Mühen auf den Tennisplatz begleiten und ihm bei seinem famosen Spiel Beifall spendend zuschauen. Vielleicht habe ich das ein oder zwei Mal tatsächlich über mich gebracht.

Ich weiß es nicht mehr. Aber eines weiß ich noch ganz genau, dass er mir – wahrscheinlich mit Unterstützung seines Herausgebers – ein Journalistenrecht verweigerte. Der junge Mann, kaum älter als ich, spielte den schwäbischen Saudi, den arabischen Herrscher, der Frauen dieses und jenes erlaubte und anderes wiederum nicht. Zum Beispiel untersagte er mir – „da bringen Sie mir nur die Männer durcheinander“ – am Umbruch teilzunehmen und dabei zu lernen, wie eine Zeitungsseite zusammengebaut wird.

Kernige Burschen mit viel Hirn und Interesse

Das war zu jener Zeit eine nicht nur hochinteressante, spannende, ja in der Tat auch fast erotische Angelegenheit – zumindest für ein weibliches Wesen –, weshalb der kleine Lokalseitendiktator ja nicht ganz unrecht hatte, mich von dieser Phase der Produktion fernzuhalten. Warum wären denn nur die Männer in Gefahr geraten? Was mir da entging, erfuhr ich später in entschieden größerem Maßstab bei der Stuttgarter Zeitung, wo ich gelegentlich Urlaubsvertretungen übernehmen und auch am Umbruch teilnehmen durfte.

Natürlich gab es damals noch keine Bildschirme, geschweige denn irgendeine Art digitaler Produktionsweisen. Vielmehr war alles Handwerk – reines Männerhandwerk. Ausgeübt von der allgemein als besonders intelligent und gebildet angesehenen Kaste der Schriftsetzer. Das waren kernige Burschen mit viel Hirn und Interesse, die sommers nur mit dem Lederschurz vor dem nackten Oberkörper über den Kästen schwitzten, in welche sie die in Blei gegossenen Artikel einpassten – Zeile für Zeile.

Musste gekürzt werden, wurde einfach abgehackt, was zu lang war. Im Hintergrund klapperten die Linotype-Maschinen auf ihre unnachahmlich gedämpfte Art und spuckten nicht nur die frischeste Ware, sondern auch diese und jene Korrekturzeile oder das neue Ende für den gekürzten Text in Windeseile aus. Es roch nach Männerschweiß und Druckerschwärze. Herrlich! Die Metteure, also diejenigen, welche die Seite zusammenfügten, die Zeilen in Rahmen einpassten und die Überschriften Buchstabe für Buchstabe hinzusetzten, gaben auf der Stelle ihre Kommentare zu den Texten ab, die sie selbstverständlich in Spiegelschrift sofort gelesen hatten. Ich wurde gelobt oder auf Fehler hingewiesen.

Wenn dann alles fertig komponiert, wenn es vom Blei auf Matrizen übertragen war und die Matrizen wiederum auf die riesigen Rollen gespannt waren, brauste die Rotation los und vervielfältigte tausendfach, was – unter anderen – auch ich geschrieben hatte. Es nahm mir den Atem.

„Da bringen Sie mir nur die Männer durcheinander“

Mein Saudi wollte mir diese Erfahrung nicht gönnen. Jahre später konnte ich sie nachholen. Aber die Fatwa des kleinen Redakteurs holte mich auf andere Weise doch noch einmal ein. Ich hatte Politik studiert, wollte über Politik schreiben, und selbstverständlich wollte ich in der politischen Redaktion arbeiten, für die ich schon manche Reportage zu Papier gebracht hatte.

Aber da war er wieder, dieser Satz, dieses Mal aus dem Mund von Rainer Tross, dem Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung. Der schätzte mich zwar, gab mir auch hochinteressante Aufgaben, beauftragte mich sogar damit, eine ganze Serie zu schreiben: „eingekleidete“ Interviews aller Personen im Umfeld der Münchner Geiselnahme vom 4. August 1971 in der Deutschen Bank auf der Münchner Prinzregentenstraße. Ich sprach also mit dem damaligen Innenminister Hans-Dietrich Genscher, mit dem innovativen Polizeipräsidenten von Nürnberg und späteren BKA-Chef Horst Herold und mit Manfred Schreiber, dem inzwischen verstorbenen Polizeipräsidenten von München. Das war eine ehrenwerte Arbeit. Die Artikel erschienen auf der Dritten Seite. Aber Mitglied in der politischen Redaktion der Stuttgarter Zeitung zu werden? Unmöglich. Und dann wortwörtlich: „Das geht nicht, da bringen Sie mir nur die Männer durcheinander.“