Das Wettlesen um den Bachmann-Preis in Klagenfurt ist von Pathos geprägt gewesen. Manchmal hat das Denken aber auch Purzelbäume geschlagen. Am Ende gewinnt die gebürtige Ukrainerin Tanja Maljartschuk mit der Erzählung „Frösche im Meer“.

Stuttgart - „Die Letten werden die ersten sein“, die Worte an den Wänden im ORF-Theater vom neuen Album des Ersten Wiener Heimorgelorchesters blieben bloß Kulisse für den diesjährigen Bachmann-Wettbewerb. Programmatisch waren sie jedenfalls nicht. Die Lesereihenfolge hat auch diesmal nicht den Ausschlag gegeben, und gewitzt und humorvoll wollte das 42. Wettlesen in Klagenfurt ganz überwiegend partout nicht sein.

 

Das lag aber weniger daran, dass bereits der Schriftsteller Feridun Zaimoglu in seiner leidenschaftlichen Eröffnungsrede einen ernsten Ton angeschlagen hatte. Der Kieler Autor mit türkischen Wurzeln zielte am Mittwoch mitten hinein in die aufgeheizte Diskussion um Flüchtlinge. Vehement attackierte er die politische Rechte als „Fremdenhasser“ und warb für eine Literatur der Empathie mit den Armen und Außenseitern. Ganz im Sprachduktus seines Lutherromans rief er kämpferisch in den Kärntner Sommerabend hinaus: „Klagenfurt ist ein Ort der vielen Geschichten. Es ist ein Ort der Beseelung. Wir schreiben, wir lesen, wir kämpfen. Wir stehen bei den Verlassenen.“

Aber nach dem von so viel Pathos getragenen Auftakt ging es doch lange ruhiger und weit weniger kämpferisch zu in Klagenfurt. Schlecht war das nicht. „Wir lieben die leise Art und den lauten Hall“, hatte Zaimoglu für die Dichter ja auch reklamiert. Aber laut hallten zunächst viele Texte gerade nicht, manche waren bloß schwer. Es wurde viel gelitten und viel gestorben. Eine Tote sinnierte über ihr beladenes Leben. Die Zürcherin Anna Stern versammelt eine ganze Schar von Trauernden um eine komatöse Frau und erhielt dafür überraschend den 3sat-Preis. In der Erzählung „Das Loch“ von Raphaela Edelbauer, der einzigen Österreicherin im deutsch dominierten Starterfeld, wurden Pferde mit ausgestochenen Augen in die Dunkelheit eines Bergwerks geschickt, später starben KZ-Häftlinge in dem Schacht durch Benzininjektionen ins Herz. Diese Chronologie des Schreckens bedachten die Zuschauer mit dem Publikumspreis – vielleicht wirkte ein Heimbonus.

Berührende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft

Dankbar krabbelte man jedenfalls mit weniger düsteren Texten aus dem Loch wieder hinauf ans Licht – am besten gleich weiter auf einen Sandhügel namens Sahara. Dort nämlich ließ Stephan Lohse, der eigentlich Schauspieler von Beruf ist und erst im Vorjahr als Romancier debütierte, zwei Teenager lässig, klug und herrlich zugedröhnt über die Ödnis ihrer Siedlung irgendwo in der Provinz parlieren. „Lumumbaland“ heißt die Coming-of Age-Story, weil der eine der beiden Außenseiter irgendwann die Idee hat, dass er nicht – wie die meisten Jungen aus seiner Klasse – Fußballprofi sein will, sondern ein Schwarzer: Lumumba, wie der ermordete kongolesische Freiheitskämpfer, von dem auf einer zweiten Ebene erzählt wird. Der Text, der Purzelbäume schlug wie das Denken beim Kiffen, ging leider leer aus.

Aber ansonsten machte die Jury in veränderter Zusammensetzung, die Dichterin und Bachmann-Preisträgerin von 2015 Nora Gomringer und die freie Literaturkritikerin Insa Wilke waren neu dabei, ihren Job gut und traf nachvollziehbare Entscheidungen. Die Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die seit 2011 in Wien lebt, erhielt den mit 25 000 Euro dotierten Bachmann-Preis für die Erzählung „Frösche im Meer“, in der zwei Außenseiter behutsam zueinander finden: ein Flüchtling, der seinen Pass in die Donau geworfen hat, und eine demenzkranke, alte Frau. Einsamkeit sei ihr großes Thema, sagte die Autorin hinterher, sie selbst fühle sich fern ihrer Heimat oft verloren. Der Titel „Frösche im Meer“ stehe sinnbildlich dafür, dass Migranten oft in eine idealisierte Ferne aufbrechen, aber das Land ihrer Träume kaum je als ihren natürlichen Lebensraum begreifen können. Maljartschuk hat bislang in ihrer Muttersprache zwei Romane geschrieben. Der Klagenfurt-Beitrag war ihr erster literarischer Text auf Deutsch. Vielleicht wirkte sie auch deshalb so überrascht, als sie, die Siegerin, auf die Bühne gerufen wurde. Feridun Zaimoglu war da schon abgereist, aber wahrscheinlich hätte auch ihm die berührende Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft gut gefallen.

Chor der Mütter

Bov Bjerg, als Mitfavorit angereist, bekam den zweiten Preis, den des Deutschlandfunks. „Serpentinen“ ist die kurvige Geschichte einer schicksalshaft bedrohten Vater-Sohn-Beziehung. Nur der depressive Ältere weiß darum, dass sich die männlichen Familienvorfahren über Generationen hinweg umgebracht haben. Soll er vor dem Jungen das traurige Kontinuum verbergen? Und wie kann er ihn und sich selbst beschützen? Das sind die Fragen, die den Vater quälen. Bjerg erzählt zurückhaltend und in einfachen, knappen Dialogen. Wie gut er das kann, hat er schon in seinem „Tschick“-artigen Bestseller „Auerhaus“ gezeigt.

Einem Chor der Mütter wurde schließlich der Kelag-Preis zuerkannt. Die 1983 in Solingen geborene Özlem Özgül Dündar lässt in ihrem Beitrag unterschiedliche Frauen in einer atemlosen, durch keine Satzzeichen unterbrochenen Rede zu Wort kommen. Die Frauen brennen, stürzen aus dem Fenster, oder sie sind bestimmt von einer tiefen Trauer. Man musste nicht, aber man konnte „und ich brenne“ als eine Antwort auf den Brandanschlag in Solingen vor 25 Jahren lesen. Feridun Zaimoglu hätte wohl auch dieser Geschichte besonders applaudiert.