Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder mehr Zeit bis zum Abitur haben. Das Taus in Backnang ist im Rems-Murr-Kreis das einzige Gymnasium mit einem G-9-Zug, die Schüler haben neun statt acht Jahre bis zum Abschluss.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Backnang - Victoria ist zwölf, sie geht in die siebte Klasse des Backnanger Taus-Gymnasiums und hat mehrmals in der Woche nachmittags Unterricht. Das ist manchmal ganz schön anstrengend obwohl das Mädchen vergleichsweise leicht lernt und gut ist in der Schule. Sie hätte gerne mehr Zeit für ihre Hobbys, fürs Ballett und für das Geige spielen. „Auch Treffen mit Freunden kommen zu kurz“, sagt die Gymnasiastin und guckt ernst.

 

Ihr Bruder Alexander ist zehn Jahre alt, er geht in die fünfte Klasse und strahlt. Alexander hat gut lachen. Wenn er in die Siebte kommt, dann hat er laut Auskunft des Direktors des Taus-Gymnasiums, Reinhard Ortwein, voraussichtlich an keinem einzigen Nachmittag Unterricht. Allenfalls einmal die Woche Sport. Aber Sport ist Alexanders große Leidenschaft. Er kickt bei der TSG Backnang und spielt Tennis.

Der Jubel in Backnang war groß

Alexander hatte Glück. Das Taus ist das einzige Gymnasium im Landkreis, das neuerdings G 9 anbietet. Das Abitur macht er nach neun Jahren statt nach acht, so wie früher. Im Januar hat das Ministerium dem Taus den Zuschlag erteilt. Der Jubel in Backnang war groß. Es gibt landesweit nur 44 Gymnasien mit einem G-9-Zug, alle anderen führen die Schüler in acht Jahren zum Abi. Victoria werde sich auch durchbeißen, sagen die Eltern. Sie sei sehr gut organisiert.

Kerstin Wildermuth, 46 Jahre, kaufmännische Angestellte, und ihr Mann Wolfram Wildermuth, 48, Wirtschaftsprüfer, waren sich schnell einig: Der Alex soll ins Taus gehen. Klar, weil die große Schwester die Schule besucht – aber auch wegen des in diesem Schuljahr erstmals angebotenen G-9-Zugs, aus dem schließlich mehr geworden ist als nur ein Zug. Am Taus gibt es gar keine G-8-Fünfer mehr, nur G-9er.

„Deutlicher kann nicht sehen, was die Eltern wollen.“

Das Taus ist schlechter mit dem Bus zu erreichen als das zweite Gymnasium in der Stadt, das Max-Born. Deshalb hatte das Taus Probleme, genügend Anmeldungen zu bekommen. Im Schuljahr 2011/12 waren es nur noch 54 gewesen – und am Max-Born weit über 100. Im Jahr nach dem Beschluss des Ministeriums, war alles anders. Am Taus wurden 115 Buben und Mädchen angemeldet, kein Kind für G 8. Die Abstimmung mit den Füßen war also überzeugend. „Deutlicher kann man nicht sehen, was die Eltern wollen“, sagt Ortwein. Das Max-Born-Gymnasium ist indes nicht ausgeblutet, es hatte knapp 100 Anmeldungen.

Rund 20 Prozent der Taus-Fünftklässler stammten aus Kommunen, die nicht zum unmittelbaren Einzugsgebiet gehören, so Ortwein weiter, etwa aus Murrhardt und aus dem Weissacher Tal. Der 64-jährige Direktor, der mit dem Ende dieses Schuljahres in den Ruhestand geht, sagt, er würde seine eigenen Kinder, wenn sie nicht längt erwachsen wären, heute auch in ein G-9-Gymnasium schicken. In den G-8-Klassen sieben und acht „fängt es an, brutal zu werden“. Die dritte Fremdsprache, die Pubertät – es komme einiges zusammen. Mit Blick auf die Wochenstunden könnte man sagen: weniger ist mehr. G-9-Schüler haben in Klasse sieben 29 Wochenstunden und keinen Nachmittagsunterricht, G-8-Schüler haben 34 Wochenstunden und oft kaum Luft für Freizeitaktivitäten.

Keine Zeit mehr für Hobbys

„Wir sind dankbar“, sagt Frau Wildermuth. Sie sehe bei Freunden und Bekannten, die ältere G-8-Kinder haben, dass „viele keine Hobbys mehr haben“ oder nahezu täglich darauf angewiesen seien, von der Mutter oder vom Vater von A nach B chauffiert zu werden. Kinder von zwei voll berufstätigen Eltern haben mitunter Pech. „Wo bleibt die Chancengleichheit?“, fragt der erfahrene Direktor Ortwein.

Alexander verwirkliche sich im Sport und manchmal beim Klavierspielen, erzählen die Eltern. Wenn er mehrmals in der Woche nachmittags Unterricht hätte, dann gingen zwangsläufig viele soziale Kontakte verloren, sagt seine Mutter. Ein Ausgleich zur Schule sei aber wichtig. Und der Vater weiß: Die „social Skills“ – die sozialen Fähigkeiten – seien später im Berufsleben mindestens so wichtig wie das gepaukte Fachwissen. Alles zu verkürzen, das sei der falsche Weg. Die immer frühere Einschulung der Kinder, G8 und dann noch das lediglich dreijährige Bachelor-Studium, „die Richtung stimmt nicht“, sagt Wolfram Wildermuth. Aber das Abitur sollte eigentlich eine Reifeprüfung sein. Jugendliche, die den Abschluss machen, bevor sie 18 sind, die nicht zur Bundeswehr müssen oder Zivildienst machen, seien oft noch nicht reif. Wie sollten sie auch?

Sportvereine und Musikschulen klagen

„Der Schuss geht nach hinten los“, sagt Wildermuth. Wenn die Schüler nach dem Abi da stünden und nicht wüssten, wie das Leben weiter gehen soll, „dann ist nichts gewonnen“. Seine Frau meint, die Eltern der aktuellen Fünfer seien viel entspannter, weil sie wüssten, dass den Kindern Zeit gelassen wird. Der Schulleiter sagt, mitunter hätten G-8-Schüler nicht mal mehr Zeit für Förderstunden. Viele Sportvereine und Musikschulen beklagten den ständigen Nachmittagsunterricht.

Ortwein blickt gespannt in Richtung März nächsten Jahres. Dann kommen die Eltern der künftige Fünfer um ihre Sprösslinge anzumelden. Er geht davon aus, dass wieder rund 120 Kinder an seine Schule wollen, dass es am Taus wieder vier G-9-Eingangklassen geben wird. Aber was tun, wenn weit mehr Anmeldungen ins Schulhaus flattern? Dann, sagt der Direktor nachdenklich, müsste das Regierungspräsidium Stuttgart entscheiden.

Alexander interessieren solche Überlegungen nicht. Er will an diesem Nachmittag nur eins: schnell ins Fußballtraining.

Kontroverse Pädagogik-Debatte

Vielerorts im Land fordern Eltern, dass ihre Kinder in neun statt in acht Jahren zum Abi geführt werden. Trotzdem soll der Schulversuch G 9 nicht ausgeweitet werden. Die Festlegung auf 44 Gymnasien in Baden-Württemberg sei ein Kompromiss der beiden Regierungsfraktionen und „ist auch finanziell begründet“, so die Auskunft des Kultusministeriums. Mehr G-9-Klassen kosten schlicht mehr Geld.

Aus diesem Grund ist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auch skeptisch. Der GEW-Pressesprecher Matthias Schneider sagt, das Geld sollte lieber ausgegeben werden für andere wichtige Vorhaben, etwa für die Inklusion, also für den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern. Es sei zudem nötig, auch die G-8-Schulen besser zu unterstützen, sie müssten zu gebundenen Ganztagsschulen werden. „Wenn wir Geld ohne Ende hätten“, dann wären mehr G-9-Schulen kein Problem.

Der Philologenverband (PhV), der die Interessen der Gymnasiallehrer vertritt, fordert indes Wahlfreiheit für alle Gymnasien im Land. Die „künstliche Beschränkung“ auf lediglich 44 Gymnasien, sagt Ralf Scholl vom PhV, führe zu „unerträglichen Situationen“. Manche G-9-Schulen platzten aus allen Nähten.