Mit virtuellen Erlebnissen will Baden-Württemberg mehr Urlauber anlocken. Vor Overtourismushaben die Vermarkter keine Angst.

Berlin - Mit Brille auf dem Kopf fliegt man wie auf Adlers Fittichen übers Land, schaut aufs Heidelberger Schloss, gleitet über Neckar, Bodensee, die Alb, das Lautertal, den Feldberg oder direkt an den Besuchern auf dem Stuttgarter Fernsehturm vorbei. Wenn man die Brille abzieht, fliegt man nicht mehr um den Fernsehturm, sondern steht auf dem Stand Baden-Württembergs auf der Reisemesse ITB in Berlin, die noch bis Sonntag läuft. Dort werden Besucher mit einer 360- Grad-Virtual-Reality-Brille mitten in die schönsten Landschaften des Südwestens geholt. Mit digitaler Technik will man den Appetit der Touristen auf das Bundesland wecken.

 

Digitales Erleben ist das Thema auf der Messe

Baden-Württemberg hat zur ITB seinen Auftritt komplett erneuert und mit vielen digitalen Elementen ergänzt – ganz, wie man das von einem Hochtechnologieland erwartet. Neben dem virtuellen Flug – das Bild ist manchmal unscharf, aber die Rundumsicht in alle Richtungen macht Eindruck – wurde auch der Rest des Standes digitaler. Fotos auf Stellwänden sind ebenfalls passé. Stattdessen leuchten Bildschirme den Stand Baden-Württembergs aus und holen so Besucher in die sattgrünen Weinberge und die Wanderlandschaft auf der Alb . Über den Köpfen hängt zusätzlich ein großes Rundbanner mit Bewegtbildern und Videos.

Die Digitalisierung des Reisens und seiner Vermarktung dominiert die ITB. „Die Zukunft des Reisens wird durch und durch digital sein, das lässt sich auf dieser Messe eindrucksvoll erleben“, sagt auch Baden-Württembergs Tourismusminister Guido Wolf. „Nur wer diesen Weg mitgeht, wird sich auch in zehn oder 20 Jahren erfolgreich auf dem Markt behaupten können“, so Wolf. Nach sechs Jahren war es ohnehin Zeit, den Stand des Südwest-Tourismus zu erneuern. Geworden ist daraus ein edel-eleganter, angenehm zurückhaltender Auftritt – der nicht nur neue Eindrücke vermitteln, sondern auch Geld sparen soll.

Virtual Reality spart Baden-Württemberg Geld

Der Einsatz digitaler Technik ermöglicht nun mehr visuelle Vielfalt auf weniger Platz. Baden-Württemberg belegt nur noch 700 statt bisher 1000 Quadratmeter. Bei einem Preis von 197 Euro pro Quadratmeter für die ITB spart das allein knapp 60 000 Euro Mietkosten. Eine halbe Million kostete der fünftägige Messestand in Berlin bisher – bei vier Millionen Euro Jahresbudget ein fetter Posten. „Hier wollten wir umsteuern“, sagt Andreas Braun, Chef der Tourismus-Marketing GmbH Baden-Württemberg (TMBW). Die Ersparnis soll zwischen zehn und 20 Prozent liegen.

Als Zeichen, dass die Messe im digitalen Zeitalter an Bedeutung verliert, sei das aber nicht zu interpretieren. „Die ITB ist die Fachleitmesse, von der wir uns nie zurückziehen werden“, betont Braun. Im Gegensatz zur Stuttgarter Touristikmesse CMT, die sich an das allgemeine Publikum richtet, sind die Berliner Messetage der wichtigste Branchentreffpunkt. Drei von fünf Tagen sind dem weltweit angereisten Fachpublikum aus Reiseveranstaltern, Dienstleistern, Einkäufern, Hotelmanagern und Agenturen vorbehalten, das sich unterm Funkturm vorrangig mit einem Ziel trifft: Verträge abschließen, die Gäste in das jeweilige Land oder Hotel bringen. Weltweit gibt es keine größere Touristikmesse. Hier will sich jeder in bestem Licht präsentieren, entsprechend viel Aufwand wird für die Messestände betrieben. Für die Tourismusorganisationen der Bundesländer – jedes mit eigenem Stand – geht es auch darum, vor den vorbeikommenden Politikern, Ministern, Landräten und Bundestagsabgeordneten zu glänzen. Schließlich hängen die Marketingorganisationen am Tropf der Politik.

Der Südwesten setzt auf das Thema Bauhaus

Dass die ihren Job gut machen, ist angesichts des boomenden Deutschlandtourismus unbestritten. Vom touristischen Kuchen profitieren allerdings nicht alle gleichermaßen. Ein Drittel der Gäste besucht nur zwei Bundesländer, nämlich Baden-Württemberg und Bayern. Während Bayern in seiner Vermarktung als Tourismusziel ganz auf Baumhäuser und das Waldbaden setzt, steht im Südwesten das Thema „100 Jahre Bauhaus“ im Mittelpunkt – wie auch beim Deutschland-Tourismus insgesamt.

Auch zum Thema Bauhaus gibt es eine Virtual-Reality-Tour – in der Lounge der Deutschen Tourismuszentrale. Was die Augen sehen, erscheint echt: Regal, Schreibtisch, raumhohe Fenster, die bunten Bauklötze. Die Umgebung wirkt real, und der erste Impuls ist: anfassen. Doch jeder Griff geht im virtuellen Büro des Bauhaus-Architekten Walter Gropius in Dessau ins Leere. Damit Touristen Bauhaus-Architektur nicht nur digital erleben, wurde eigens für das Jubiläum die „Grand Tour der Moderne“ entwickelt. Sie führt zu rund 100 Bauhaus-Stätten in Deutschland, der Südwesten steuert mit 15 Gebäuden verhältnismäßig viel dazu bei.

Nicht jedes Bundesland setzt auf das Thema Digitalisierung. Vor allem die Sachsen präsentieren sich als Bürger, die mehr im realen als im virtuellen Leben verankert sind. Der Messestand gleicht einer Werkhalle mit Scheddach, Backsteinfassade, Werkstor, viel Stahl und Maschinen aller Art. Der Besucher wird in die Anfänge der Industrialisierung geholt. Damit will man auch Touristen aus dem Westen anlocken. Viele von ihnen seien noch nie in Sachsen dort gewesen, sagt Ines Nebelung vom Sachsen Tourismus.

Alle Länder wollen eines: Wachsen

In Baden-Württemberg gab es im Vorjahr 54,8 Millionen Übernachtungen, aufgeteilt auf 22,4 Millionen Ankünfte in Hotels und Pensionen. Besonders stark gewachsen ist Schleswig-Holstein, um 15 Prozent legten die Übernachtungen auf 34,4 Millionen zu, was immerhin 8,6 Millionen Übernachtungen bedeutete.

Wachstum, das ist die Strategie im deutschen Tourismus. Man will in diesem Jahr zum zehnten Mal die Vorjahreswerte übertreffen – trotz der Diskussion über zu viel Rummel. „In Baden-Württemberg gibt es keinen Overtourismus“, findet TMBW-Chef Braun. Allenfalls mal eine saisonal-lokale Überlastung, etwa am Bodensee. Schleswig-Holstein etwa setzt auf bessere Verteilung übers Jahr. Aber Ganzjahresziel sein, davon träumen alle. Zumindest in der virtuellen Welt kann man Deutschland immer erleben.