Im Jahr 2015 sind vermutlich mehr als 2000 Menschen an den Folgen der Hitzewelle gestorben – mehr als im Jahrhundertsommer 2003. Die aktuellen Zahlen liegen nun vor.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Jürgen Baumüller ist schon lange im Ruhestand – das Wort des früheren Stuttgarter Stadtklimatologen und Honorarprofessors hat aber nach wie vor großes Gewicht in Politik und Forschung. Jetzt hat er die Todeszahlen in Baden-Württemberg in Bezug auf sommerliche Hitzewellen untersucht. Auch wenn die Ergebnisse nun im kalten Winter kommen, sind sie nicht weniger erschreckend: Bisher ging man davon aus, dass im Jahrhundertsommer 2003 die höchste Zahl von Todesopfern aufgrund hoher Temperaturen zu beklagen war. Baumüller sagt nun: „Im Jahr 2015 könnte die Zahl der Toten fast doppelt so hoch liegen.“ Im Durchschnitt sind 2015 in Baden-Württemberg 2050 Menschen mehr als 2003 gestorben (siehe Grafik); ein großer Teil davon dürfte der Hitze erlegen sein.

 

Nun ist es mit der Statistik ja so eine Sache. Baumüller hat das Mittel aller Todesfälle in den Monaten Juni, Juli und August seit dem Jahr 2000 errechnet – die Abweichungen nach oben sind für ihn in heißen Jahren nicht ausschließlich, aber vorwiegend durch die Hitze bedingt, und diese Methodik ist in der Klimatologie durchaus akzeptiert. Allerdings steigt die Zahl der Todesfälle auch allgemein aufgrund des höheren Anteils älterer Menschen in der Gesellschaft, was man bei den jüngeren Zahlen berücksichtigen muss.

Dass die Zahlen aber nicht aus der Luft gegriffen sind, zeigt ein Vergleich. So kommt Baumüller für das Jahr 2003 auf etwa 1200 an der Hitze gestorbenen Menschen. Das Sozialministerium hatte 2004 eine größer angelegte Studie unternommen und zum Beispiel auch direkt in Pflegeheimen nachgefragt. Am Ende nannte das Ministerium die Zahl von 2000 Toten. Sprich: Die Zahlen Baumüllers sind eher zu niedrig als zu hoch angesetzt.

Etwas rätselhaft sind die Zahlen dagegen für das Jahr 2016. Sie weisen einen ähnlich hohen Wert wie für 2015 aus – aber in diesem Jahr war der Sommer bei Weitem nicht so heiß. Die hohe Zahl an Todesfällen im Jahr 2016 muss also andere Ursachen haben, die Werner Brachat-Schwarz vom Statistischen Landesamt und Jürgen Baumüller aber noch nicht benennen können.

Betroffen vom Klimawandel sind meist ältere Personen sowie Menschen mit Vorerkrankungen. Eine Studie des Deutschen Wetterdienstes und des Umweltbundesamtes hat 2015 nachgewiesen, dass die Sterblichkeit aufgrund von Herzerkrankungen während Hitzewellen seit 2000 im Schnitt um zehn bis 15 Prozent gestiegen ist. Und die Prognosen der Meteorologen sind düster: Bis zum Ende des Jahrhunderts erwarten sie eine Verdoppelung der Hitzetage – bis dahin werde die Sterblichkeit wegen Hitze um 120 Prozent steigen.

Stuttgart will bei Hitze schneller warnen

An vielfältigen Stellen wird versucht, den Klimawandel und dessen Folgen zu mildern. Das Umweltministerium in Stuttgart hat einen Klimaplan erarbeitet, damit weniger Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangt. Das Ziel ist, bis 2020 eine Reduzierung der Emissionen um 25 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Zwei Drittel seien geschafft, teilte der Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) mit. Viele Städte haben zudem eigene Klimapläne erarbeitet, etwa Ludwigsburg und Karlsruhe.

Daneben läuft seit fünf Jahren das bundesweit einzigartige Landesprogramm Klimopass, das modellhafte Projekte unterstützt. Bei einer Zwischenbilanz vor wenigen Wochen sagte Untersteller, das Land habe bisher 6,4 Millionen Euro an Fördergeld bewilligt. In Stuttgart konnte so vor drei Jahren ein System entwickelt werden, um Schulen oder Pflegedienste bei Hitze besser vorwarnen zu können.

Gerade auch die Mediziner müssen sich auf die Folgen des Klimawandels vorbereiten. Dabei geht es nicht nur um die Belastung durch Hitze, sondern etwa auch um zuwandernde Tiere und Pflanzen, die neue Erreger und neue Allergie auslösende Pollen mit sich bringen. Im Moment spiele der Klimawandel noch keine entscheidende Rolle im medizinischen Alltag, sagt der Arzt Norbert Fischer, der sich für die Ärztekammer Baden-Württemberg mit dem Thema befasst. Aber es gelte, den ärztlichen Blick zu schulen, damit neue Erkrankungen, etwa das Pappataci-Fieber, eine durch Sandmücken übertragene Virusinfektion, auch erkannt werden. Dazu bietet die Ärztekammer Fortbildungen an. Fischer weist zudem auf das höhere Hautkrebsrisiko hin.

Für den Klimatologen Baumüller ist zudem der Städtebau von entscheidender Bedeutung. So müsse man in den Städten „Kühloasen“ schaffen mit Bäumen, Wiesen und Brunnen: „Nicht jeder kann bei Hitze für Stunden in den Stadtpark gehen, wir brauchen daher viele kleinere Rückzugsinseln“, sagt Baumüller. Auch beim Hausbau müsse sich etwas verändern. Bisher habe man eher versucht, Wärme zu gewinnen, jetzt müsse man über zusätzlichen Sonnenschutz nachdenken. Zudem gelte es, die lokalen Windsysteme, die im Sommer für einen Luftaustausch sorgen, zu sichern.

Trotz der genannten Zunahme der Sterblichkeit im Sommer: Gestorben wird in Baden-Württemberg weiterhin verstärkt im Winter. Im Jahr 2015 waren Januar, Februar und März die Monate mit den meisten Toten. Eine direkte Verbindung von Todesfällen und Witterung gibt es tatsächlich auch für den Winter, denn durch die Kälte sind viele Menschen anfälliger für Infekte. So liegt ein starker Zusammenhang von Mortalität und Grippe vor. Laut Robert-Koch-Institut war die Grippesaison 2014/15 die tödlichste in den vergangenen 20 Jahren. Damals starben – wohlgemerkt in ganz Deutschland – geschätzt 21 300 Menschen an der Grippe. Aufs Land heruntergerechnet ist große Hitze für Risikogruppen also gefährlicher als die Grippe.