Umsichtig, besonnen, bedächtig: Zu Beginn der Corona-Krise stieß Baden-Württembergs Ministerpräsident Kretschmann mit dieser Linie noch auf breite Zustimmung. Nun hat er Druck von allen Seiten.

Stuttgart - Als die Corona-Pandemie Mitte März Baden-Württemberg erreichte, war die Verunsicherung in der Bevölkerung und in der Politik groß. Wie sollte man umgehen mit der neuen Gefahr? Die mahnenden Worte von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu größter Vorsicht stießen da weithin auf Gehör. Mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Regierungschefs anderer Bundesländer treiben Lockerungen von Corona-Maßnahmen voran, die Opposition im Stuttgarter Landtag prangert Kretschmanns Corona-Krisenmanagement an, und auch in der Landesregierung ziehen Grüne und CDU in Sachen Corona nicht ganz an einem Strang.

 

Zu Beginn der Corona-Krise fand die Opposition öffentlich nur schwer Beachtung - im Zentrum des Interesses stand die Regierungsarbeit. SPD und FDP hielten sich mit Kritik zurück. Die Zeiten sind nun vorbei. Am vergangenen Mittwoch zitierte der Landtag Kretschmann nach der Ministerpräsidentenkonferenz ins Plenum, um von ihm aus erster Hand die neuesten Corona-Pläne zu erfahren. Den Anstoß dafür hatte SPD-Fraktionschef Andreas Stoch gegeben, alle anderen Fraktionen außer die der Grünen unterstützten dieses Ansinnen mit viel Applaus.

FDP-Fraktionschef kritisiert Kretschmann

FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke hielt Kretschmann da vor, keine Fragen auf drängende Antworten zu geben und im Kreis der Länder der Bremser bei der Öffnung etwa von Schulen und Gastronomie zu sein. „Er hat offensichtlich die Absicht, als letzte Mohikaner des Shutdowns in die Geschichte der Corona-Pandemie einzugehen.“ SPD-Politiker Stoch bemängelte, Kretschmanns Credo, man müsse im Umgang mit dem Virus auf Sicht fahren, klinge für die Bürger zunehmend danach, dass man nur im Nebel stochere. „Unsere Menschen brauchen jetzt endlich einen Plan, wie wir den Weg in eine neue Normalität finden.“

Den Plan legte Kretschmann dann auch vor, aber erst nach der Konferenz der Ministerpräsidenten. Denn Kretschmann setzte noch auf ein gemeinsames Vorgehen von Bund und Ländern, obwohl sich sein einstiger Verbündeter, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), da schon abgeseilt hatte und einen eigenen Weg der Öffnung ging.

Ob Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut, Tourismusminister Guido Wolf oder Kultusministerin Susanne Eisenmann (alle CDU): Auch Kretschmanns Koalitionspartner machte Druck, die Corona-Vorgaben zu lockern. Die CDU versteht sich als Anwalt der Wirtschaft, die schwer unter dem Lockdown leidet. „Gesundheitsschutz ist uns das höchste und wichtigste Anliegen“, erklärte etwa CDU-Landtagsfraktionschef Wolfgang Reinhart. „Aber gleichzeitig muss auch die Gesundheit der Wirtschaft weiterhin sichergestellt werden.“ Kretschmann entgegnete in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“ und der „Heilbronner Stimme“, als Regierungschef müsse er auf alle Bereiche achten. „Es braucht einen, der auch mal auf der Bremse steht. Und das bin ich.“

Lenkungsgruppe bei Verordnungen unter Zeitdruck

Hinter den Kulissen wird daher heftig gerungen um konkrete Schritte und Termine zur Lockerung von Corona-Maßnahmen. Die Details für neue Corona-Verordnungen erarbeitet eine gemeinsame Lenkungsgruppe, in der die wichtigsten Ministerien vertreten sind. Das letzte Wort hat das grün-schwarze Kabinett. Die Verordnungen wurden oft wegen des Zeitdrucks mit heißer Nadel gestrickt. Sie ließen teilweise Fragen offen für die, die sie umsetzen mussten - wie Gastronomen, Händler oder Zahnärzte. Eine 800-Quadratmeter-Regelung für den Einzelhandel hob die Regierung wieder auf, nachdem der Verwaltungsgerichtshof in Mannheim erklärt hatte, sie widerspreche dem Gleichheitsgebot.

Zugleich wächst der öffentliche Widerstand gegen die Corona-Beschränkungen. Am Wochenende gingen in Baden-Württemberg mehrere Tausend Menschen auf die Straße, um gegen die Vorgaben zu demonstrieren. Und aus einer Umfrage der „Schwäbischen Zeitung“ und des Online-Meinungsforschungsinstituts Civey ging hervor, dass die Baden-Württemberger mit dem Corona-Krisenmanagement ihrer Landesregierung weniger zufriedener sind als die Menschen in Bayern.

Christdemokraten haben deutlich aufgeholt

Eine Anfang Mai veröffentliche Befragung von Infratest dimap für den Südwestrundfunk sah die Grünen im Südwesten zwar wie gewohnt vor der CDU - die Christdemokraten haben aber deutlich aufgeholt. Kretschmann selbst gewann allerdings in der Krise noch an Sympathiepunkten hinzu.

Baden-Württemberg hat im bundesweiten Vergleich nach Bayern die höchste Corona-Infektionszahl pro 100 000 Einwohner. Viele Experten befürchten eine zweite Infektionswelle. Es gibt also Grund, in Sachen Corona weiter vorsichtig zu sein. Vorsicht ist allerdings etwas, das in der Politik selten belohnt wird. Als der befürchtete Corona-Infektions-Höhepunkt im Südwesten zu Ostern nicht eintrat, rief das bereits Kritiker des Lockdowns auf den Plan. Kretschmann spricht hier vom „Vorsorgeparadoxon“: Wenn die Maßnahmen wirkten, schwinde die Einsicht bei den Menschen, sich weiter an Maßnahmen zu halten.

Politisch abgerechnet wird allerdings erst später - im Fall Baden-Württembergs bei der Landtagswahl am 14. März 2021.