Der Weg zur Volksabstimmung über Stuttgart 21 ist jetzt frei. Es soll der Beginn einer neuen Kultur der Bürgerbeteiligung werden.   

Stuttgart - Die Sozialdemokraten sind die ersten, die an den Tisch im Foyer des Landtags gelangen. Er ist mit einem Blumengebinde geschmückt, auf der weißen Tischdecke liegen die Listen bereit, mit denen - Ministerpräsident Winfried Kretschmann wird dies gleich so formulieren - ein "wahrlich historischer Tag für Baden-Württemberg" begründet werden soll. Es ist der Antrag auf die erste Volksabstimmung im Südwesten, der dort ausgebreitet ist, neben jedem Blatt ein Stift. Ein Drittel der Abgeordneten muss unterschreiben. 46 Unterschriften. So viele sind nötig, damit Landtagspräsident Willi Stächele bei der Landesregierung das Referendum über Stuttgart 21 beantragen kann.

 

Eben hat das Parlament das Ausstiegsgesetz zu Stuttgart 21 mit den Stimmen der Opposition sowie der allermeisten Sozialdemokraten abgelehnt. Drei Genossen stimmen zusammen mit den Grünen für die Kündigung der Finanzvereinbarung über das Projekt. SPD-Justizminister Rainer Stickelberger ist dabei. Er hatte zusammen mit Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen den Gesetzentwurf ausgearbeitet. Es folgen persönliche Erklärungen einiger Abgeordneten, dann ist der Weg frei zu dem Tisch mit dem Blumengebinde, den Listen und den Stiften.

Die Phalanx der Genossen naht, sie haben den kürzesten Weg. Beseelt von der Größe des Augenblicks hebt unter den Abgeordneten ein heftiges Drängeln und Schieben hebt an. Nur manche verfolgen prosaische Absichten. "Ich muss zum Zug", dringt ein verzweifelter Ruf aus dem Gemenge. Aber auch der passt. Schließlich geht es um einen Bahnhof.

Es geht um mehr als den Bahnhof

Um einen Bahnhof? Nein, an diesem Tag geht es im Stuttgarter Landtag zumindest im Bewusstsein der grün-roten Koalitionäre nicht nur um einen Bahnhof. Es geht um mehr, mindestens um den Zusammenhalt der Gesellschaft, wenn nicht um eine neue politische Kultur. Große Worte fallen. Doch auf die muss das Publikum noch ein wenig warten, denn erst einmal dürfen jetzt Edith Sitzmann und Claus Schmiedel unterschreiben, die Fraktionschefs von Grünen und SPD. Dann schreitet Kretschmann heran, an seiner Seite Nils Schmid. Der Vizeministerpräsident wird die Position an Kretschmanns Seite für den Rest des Abends nicht mehr aufgeben. Die Demonstration der Einigkeit kann auch nicht schaden nach dem Gemetzel eben im Plenarsaal, wo Grüne und Rote zwar eng beisammen saßen und doch durch einen politischen Graben - mindestens so breit wie der Tiefbahnhof - getrennt waren.

Ruckzuck ist die nötige Zahl der Unterschriften beieinander. Und dann ist zu erleben, welch erstaunliche Dynamik der politische Geschäftsgang entwickeln kann, wenn der nötige Wille vorhanden ist. Denn der Antrag auf die Volksabstimmung verschwindet keinesfalls in einer Laufmappe oder gar in einem ordinären Briefumschlag. Nein, die Fraktionschefs von Grün-Rot überreichen den Brief samt beigefügten Listen an den Landtagspräsidenten, der schon bereit steht, immer aufgelegt zu großen Taten in historischer Stunde. Stächele gibt die Papiere umgehend weiter an den Ministerpräsidenten, der sein Kabinett zu einer Sondersitzung ins Obergeschoss bittet. Dort befindet die Ministerrunde über die Volksabstimmung.

Es dauert nicht lange, da sind Kretschmann und Schmid wieder zurück im Landtagsfoyer. Der Ministerpräsident, der während der Debatte im Plenarsaal noch gedankenschwer geschwiegen hatte, das Gesicht tief in der linken Hand vergraben, die Stirn in tausend Falten gelegt, sieht sich jetzt in seine Paraderolle versetzt - in die Rolle des dem Parteienkampf entschwebten Landesvaters. Kretschmann verzichtet auf alle Aristoteles-, Platon- und Hannah-Arendt-Zitate, die ihm sonst so lieb sind. Statt dessen verkündet er, die Landesregierung habe die Volksabstimmung einstimmig beschlossen - "die erste im Land". Ein großer Konflikt soll damit entschieden werden, der die Stadt Stuttgart und das ganze Land auseinander getrieben habe. "Wir wollen die Spaltung der Gesellschaft überwinden", verspricht Kretschmann. Er erinnert an den schwarzen Donnerstag, der sich morgen jährt, an den Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten, dessen Scheitern mit dazu beitrug, dass Ministerpräsident Stefan Mappus bei der Landtagswahl scheiterte und mit Winfried Kretschmann der erste Grüne in Deutschland zum Ministerpräsident avancierte.

Kretschmann: Ob angenommen oder abgelehnt, das Ergebnis gilt

Gegen Ende seiner Rede sagt der Regierungschef noch einen wichtigen Satz, auf den vor allem die Sozialdemokraten gewartet hatten, der aber womöglich nicht allen in Kretschmanns eigener Partei gefallen wird. Er sagt, die Landesregierung werde den Ausgang der Volksabstimmung auf jeden Fall respektieren. "Ob angenommen oder abgelehnt, das Ergebnis gilt."

Wie hatte doch CDU-Fraktionschef in der Debatte fordernd ausgerufen? "Wir wollen wissen, ob sie das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptieren." Auch bei den Sozialdemokraten hatte man mit erhobenen Augenbrauen eine Äußerung des Grünen-Landeschefs Chris Kühn vernommen, der zum Zustimmungsquorum von einem Drittel der Wahlberechtigten gesagt hatte: "Die Landesverfassung gilt", doch wenn das Quorum verfehlt werde, dabei jedoch eine Mehrheit gegen Stuttgart 21 votiere, dann müsse man noch einmal miteinander reden. SPD-Chef Schmid reagierte prompt: "Das ist gegen die Absprache." CDU-Fraktionschef Hauk verwies auf die Verfassung, auf die der Ministerpräsident seinen Amtseid abgelegt hat: "Darauf hat er geschworen, und ich gehe davon aus, dass er sich daran hält." Bei den Grünen hingegen schien diese Auffassung bisher noch nicht ganz durch.

Nun aber ist es heraus. Aufatmen bei den Genossen. Befreit von dieser Last greift auch Vizeregierungschef Schmid in die ganz große Kiste der politischen Rhetorik. "Wir wollen mehr Demokratie wagen", sagt er - mit Bedacht die Worte des SPD-Übervaters Willy Brandts aufgreifend. Sie stammen aus der ersten Regierungserklärung Brandts im Jahr 1969.

Dass Schmid eine gewisse Genugtuung verspürt, kann ihm niemand übel nehmen. Der Chef der Südwest-SPD erinnert selbst an die Situation seiner Partei vor einem Jahr, als die Genossen, tief zerstritten über Stuttgart 21, mit der Idee der Volksabstimmung niederkamen. Erhard Eppler hatte daran mitgewirkt, auch Schmid und sein damaliger SPD-Generalsekretär Peter Friedrich. "Wenn ich überlege", sagt Schmid, "wie viel Häme und Spott wir ertragen mussten, als wir vor einem Jahr diesen Weg vorgeschlagen haben." Das ist erst einmal vorbei.

Nun gilt die aus der Not der SPD geborene Volksabstimmung der grün-roten Landesregierung als Auftakt in eine neue Kultur der Bürgerbeteiligung. Kretschmann sagt mit dem ihm eigenen Pathos: "Wir wollen zeigen, dass direkte Demokratie in einem Flächenland möglich ist."