Die spanische Hauptstadt will sich rund um den Bahnhof Chamartín neu erfinden. Die Planung dauerte ein Vierteljahrhundert. Jetzt soll noch mal genauso lang gebaut werden. Die Madrider sind skeptisch.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Madrid - Man könnte die Sache auch so sehen: Hier ist ein Renovierungsprojekt völlig aus den Fugen geraten. Anfang der 1990er Jahre fand – ganz zu Recht – die staatliche spanische Eisenbahngesellschaft Renfe, dass der Bahnhof Chamartín im Norden von Madrid eine Neugestaltung nötig hätte. Doch bis heute ist nichts passiert. Der Bahnhof ist immer noch hässlich, und das Gelände ringsum liegt immer noch brach. Damit übersteigt die Realisierungszeit selbst jene des Stuttgarter Bahnhofsumbaus, für den gleichfalls mehrfach die Terminpläne über den Haufen geworfen wurden.

 

Nach einem Vierteljahrhundert der Neu- und Um- und Wiederneuplanungen hat sich das Madrider Stadtparlament diese Woche auf ein Projekt geeinigt, das nicht nur den Bahnhof, sondern gleich den ganzen Madrider Norden neu entstehen lassen soll. Für die Verwirklichung des ehrgeizigen städtebaulichen Vorhabens geben sich die Bauherren noch ein weiteres Vierteljahrhundert Zeit. Sie sind optimistisch.

Die meisten Madrider warten einfach einmal ab

Das Viertel rings um den Fernbahnhof Chamartín ist heute eine gewaltige Wunde. „Diesen Teil der Stadt zu heilen wird Madrid erlauben, in einen anderen emotionalen Zustand zu gelangen“, sagt Javier Herreros, einer der beteiligten Architekten. Welcher emotionale Zustand das sein wird, muss sich zeigen. Einige Madrider sind so in Wallung geraten, dass sie am Mittwoch Anzeige wegen Untreue gegen 28 Projektverantwortliche erstattet haben, darunter gegen acht Minister, zwei Bürgermeister, diverse Bahn- und einen ehemaligen Bankpräsidenten.

Manuela Carmena aber, die sehr liebenswerte, trotzdem gerade abgewählte Bürgermeisterin, spricht von einem „guten und sehr ambitionierten“ Projekt. Die meisten Madrider dagegen warten einfach einmal ab. Ist ja schon viel versprochen worden. Mal sehen, ob sich diesmal wirklich was tut.

Jeder neue Bauminister brachte neue Ideen für den Bahnhof mit

Die beste Nachricht ist, dass überhaupt etwas beschlossen worden ist und zudem einmütig. Das allererste Projekt hatte 1994 der damalige sozialistische Bauminister Josep Borrell unterzeichnet, der danach für ein paar Jahre ganz aus der Politik verschwand, jetzt aber Außenminister ist und demnächst als EU-Außenbeauftragter nach Brüssel gehen wird. Jeder seiner Nachfolger im Amt brachte neue Ideen mit. Die Konservativen, 1996 an die Macht gewählt, wollten alles etwas größer haben.

Anfang 2004 waren sie so weit, ihre Unterschriften unter die enorm aufgemöbelte „Operation Chamartín“ zu setzen, aber am dafür vorgesehenen Tag, dem 11. März jenes Jahres, erlebte Madrid die fürchterlichsten Terroranschläge seiner Geschichte: In vier Vorortzügen explodierten insgesamt zehn von Islamisten deponierte Bomben, die 191 Menschen in den Tod rissen. Drei Tage später wählten die Spanier eine neue Regierung – und die fand an den Plänen ihrer Vorgänger kein Gefallen.

Die Investitionen summieren sich auf gut sieben Milliarden Euro

Dass 15 Jahre später nun doch endlich ein gemeinsames Projekt steht, ist der 2015 gewählten Bürgermeisterin Carmena zu danken, die die Fähigkeit zur Konsensfindung besitzt. Das hat sie nun nach tausend Gesprächen zustande gebracht: Ein 5,6 Kilometer langer Stadtstreifen rund um die Gleisanlagen vor dem Bahnhof Chamartín darf in den kommenden Jahren mit 348 Gebäuden – darunter drei Wolkenkratzern – bebaut werden, darin zum großen Teil Büros, aber auch gut 10 000 Wohnungen. Das Gleisfeld vor dem Bahnhof wird mit einem Park zugedeckt.

Die Investitionen summieren sich auf gut sieben Milliarden Euro. Das Gesamtergebnis lassen die Architekten in ihren Modellen sehr schön, sehr glitzernd, sehr modern aussehen. Die Madrider Silhouette wird weltstädtischer, und wenn alles gut geht, ist die Wunde Chamartín am Ende geheilt.

Natürlich gibt es Detailkritik – und eine fundamentale: dass hier nämlich ein privates Konsortium – die Bank BBVA im Verbund mit dem Bauunternehmen Grupo San José – zulasten der Allgemeinheit das ganz große Geschäft macht. Deswegen die Anzeige wegen Untreue. Erstattet haben sie ausgerechnet einige frühere enge Mitarbeiter der Bürgermeisterin Carmena. Überall hat sie Konsens geschaffen. Nur nicht in den eigenen Reihen.