In Leipzig wird seit 2003 die Stadt untertunnelt. Die Kosten haben sich auf fast eine Milliarde Euro verdoppelt. Der Nutzen ist umstritten.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Leipzig - Die Wunden schließen sich langsam. Zwar prägen noch immer Zäune den Marktplatz in Leipzig vor dem wunderschönen Alten Rathaus. Allmählich aber beginnen die Aufräumarbeiten im Herzen der Stadt, das im Zuge einer gewaltigen Operationen offen gelegt wurde. Mitten auf dem Areal sind ein paar Arbeiter gerade damit beschäftigt, neu zusammenzufügen, was ausgelagert wurde, als man ein Loch buddelte. Das einstmals in den Boden eingelassene Wappen der Stadt wird Pflasterstein für Pflasterstein in neuer Form an seinen Platz zurückgesetzt. "Wird auch langsam Zeit", sagen zwei Kiebitze, die beobachten, wie sich das Mosaik Stück für Stück wieder zusammenfügt.

 

Es ist ein Donnerstag im Juli 2011. Eigentlich dürften hier keine Zäune mehr stehen. Das Wappen müsste längst wieder an seinem Ort sein, die Infotafeln an den Absperrungen seit Jahren verstaubt in einem Archiv gelagert sein, es müsste unter einem im City-Tunnel die S-Bahn fahren und ab und an ein ICE. Das alles sollte 572 Millionen Euro teuer und seit 2009 Realität sein, eigentlich. Ist es aber nicht. Es heißt, dass es im Dezember 2013 so weit sein wird. Wenn es normal läuft, was bisher eher selten der Fall war. Das Projekt wird dann rund eine Milliarde Euro gekostet haben.

Der Leipziger City-Tunnel ist das größte Infrastrukturprojekt in Sachsen, ein Prestigebauwerk, vorangetrieben vom damaligen Leipziger OB Wolfgang Tiefensee und der CDU-Landesregierung. Die Bauarbeiten begannen am 9. Juli 2003. Bei dem Projekt werden der Hauptbahnhof und der etwa zwei Kilometer entfernte Bayerische Bahnhof miteinander durch einen Tunnel verbunden - ein lange gehegter Traum, um die Verkehrsverbindungen in der Stadt und der Region mit flankierenden Maßnahmen deutlich zu verbessern. "Dies ist auch der Startschuss für den Ausbau der Sachsen-Franken-Magistrale von Leipzig nach Süden", sagte der damalige Verkehrminister Kajo Schommer. Eine Kathedrale des Nahverkehrs sollte entstehen. Eine Hauptschlagader für die Region. Im Volksmund wird sie "schwarzes Loch" genannt. Euro um Euro verschwindet unter der Stadt.

"Die Kosten stehen in keiner Relation zum Nutzen"

Der Weg zum Widerstand führt über die August-Bebel-Straße, dann rechts ab in eine kleine Nebenstraße. In der Braustraße 15 residiert Volker Külow, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der Linken in Leipzig. Der Widerstand ist in diesem Haus geradezu historische Verpflichtung. Karl Liebknecht wurde hier geboren, Karl Marx war einst zu Gast. Im Erdgeschoss gibt es ein kleines Liebknecht-Museum mit der Schreibmaschine und einem Frack.

Der Sozialistenführer von heute trägt Vollbart, Jeans und Hemd. Er bittet in einen Besprechungsraum im ersten Stock, der aussieht wie ein Klassenzimmer mit dazu passendem Overheadprojektor im Eck, der in diesem Teil der Republik Polylux heißt. Es gibt viele Unterlagen und lauwarmen Kaffee. Ach, setzt der promovierte Historiker dann an, "hitzig ist das hier nicht, und eigentlich war es das auch nie." Er klingt enttäuscht. An ihm liegt es nicht. Er hat getan, was in seiner Macht stand, aber er konnte keine Wutbürger generieren. Die Linke als größte Opposition in Sachsen ist die Speerspitze des Protestes gegen das "Leuchtturmprojekt", die in den 90er Jahren im Osten in Mode waren. Von Anfang an haben sie am Sinn gezweifelt und mit ihrer Beharrlichkeit die Bauherren öfters in Verlegenheit gebracht.

"Jetzt sind wir zeitklassig"

Leipzig war mal eine große Stadt, eine reiche Stadt, ganz früher. Man denkt groß - bis heute, manchmal zu groß. Der Flughafen fertigt 2,5 statt der erhofften 4,5 Millionen Passagiere ab, die S-Bahn Leipizig-Halle nutzen 10.000 Menschen täglich statt der erwarteten 20.000. Großmannssucht sei das alles. "Wir waren mal Champions League, jetzt sind wir zweitklassig", sagt Külow: "Aber manche wollen das nicht akzeptieren." 2003 hat man sich um Olympia beworben. Heute ist Leipzig Armutshauptstadt im Vergleich der Großstädte. Die neuen Hybridbusse müssen im Depot bleiben, weil die Gefahr angesichts der schlechten Straßen zu groß ist, dass sie Schaden nehmen.

Aber bald haben sie zwei 1483 Meter lange Tunnelröhren für mindestens 960 Millionen Euro, die eine Strecke verbinden, die man zu Fuß in circa 20 Minuten gelaufen ist. Külow nennt des den "Tunnel nach Absurdistan". Er ist die Frontfigur der Kritiker, und eine Reizfigur. Er geißelt die Politik nach der Wende, spricht davon, dass der "Aufbau Ost als Nachbau West" gescheitert sei. Und er war in der DDR bei der Stasi, was ihn leicht angreifbar macht. Mit politisch geschönten Zahlen habe man das Projekt durchgepeitscht. Es ist nicht so, dass es nutzlos wäre. "Aber die Kosten stehen in keiner Relation zum Nutzen."


Man drückt es vielleicht - überspitzt - am besten so aus: Leipzig hat einen Mercedes bestellt, und für das doppelte Geld einen Audi bekommen. Nicht schlecht, aber halt anders. Ursprünglich sollte dieser Tunnel nämlich auch für den Fernverkehr da sein, doch die Bahn hat den Knoten verlegt.

Der Rechnungshof des Landes Sachsen hat kürzlich ein vernichtendes Urteil gesprochen. Von zu optimistischer Terminplanung war die Rede, von Risiken, die man außer Acht gelassen habe, von zu niedrig angesetzten Planungskosten, von einer Vertragsgestaltung zu Ungunsten des Landes, und davon, dass schon 2001 Kosten von 750 Millionen Euro "plausibel" erschienen. Der Rechnungshof stellt zudem fest, dass "207,78 Millionen Euro, die sich nicht durch damals bekannte spezifizierbare Risiken oder mit allgemeinen Risikomargen erklären lassen", verbleiben. Irgendwo zwischen Hauptbahnhof und Bayerischem Bahnhof also verschüttgegangen. Aus diversen Gründen. Sachsens Verkehrsminister Sven Morlok sagt zu dem Verdikt: "Es herrscht nun Transparenz. Steigende Kosten und Bauzeitverlängerungen haben den Blick auf das Wesentliche zu lange verstellt: Der Tunnel ist ein bedeutendes Verkehrsprojekt."

Ex-OB Tiefensee hat ebenfalls die Kostenexplosion kritisiert, an der Sinnhaftigkeit des Unterfangens hat auch er aber keine Zweifel, man müsse das langfristig betrachten. "Man sollte dieses Geschenk annehmen." Und eines Tages könne vielleicht ja doch Fernverkehr dort fahren. Wie in einen engen S-Bahnfahrplan Fernzüge gequetscht werden sollen, ohne dass dies im Chaos endet, weiß jedoch noch keiner.

An der Kommunikationsfront ist längst Ruhe. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Leipzig wird in einem gelben Container für das Projekt geworben. Nur selten verirrt sich noch einer hinein, wenn, dann sind es neugierige Touristen. Für sie gibt es Schautafeln und Bilder wie etwa von der spektakulären Verschiebung des Bayerischen Bahnhofs. Der musste wegen des Tunnels um 30 Meter bewegt werden. Eine Meisterleistung. Und in einem Simulator kann man schon mal die Fahrt hautnah erleben. Vier Stationen, vier Minuten, 960 Millionen. Das ist die verkürzte und nicht ganz gerechte Polemik der Gegner, aber auch damit ist es nicht gelungen, Wut zu entfachen. Die Schlacht ist geschlagen ohne Schlacht.

Es gibt kein Leipzig 21

Man denkt unweigerlich an Stuttgart 21. Am Bauzaun neben dem Container hat jemand denn auch einen Anti-Stuttgart-21-Aufkleber angebracht. Stuttgart 21 ist auch in Leipzig, nur anders. Es gab natürlich Ärger, zum Beispiel mit einem Modehaus, das nicht untertunnelt werden wollte; Wirte prozessierten wegen Entschädigungen angesichts der Dauerbaustelle; und als doppelt so viel Grundwasser abgepumpt werden musste wie geplant und kilometerlange Rohre die Stadt durchzogen, regte sich Zorn. Aber es gibt kein Leipzig 21. Es kanalisierte sich nicht in einer Bewegung. Es gab und gibt viele Löcher in Leipzig, viele Einschränkungen, und es ist viel zu teuer, aber dauerhaft verändert sich höchstens etwas zum Guten. Vielleicht liegt es einfach daran. "Es fehlt das Emotionale wie Bäume oder ein verstümmelter Bahnhof. Außerdem war schon alles entschieden, als viele merkten, was das eigentlich bedeutet", sagt Külow.

Vor der Nikolaikirche trinken drei junge Männer Kaffee. Von hier ging mal eine Revolution aus, heute nicht. Die Männern lieben ihre Stadt, wie sie sagen. Der Tunnel belustigt sie - wie so viele im schönen Leipzig. Die größte Geisterbahn Sachsens, wird gespottet. Dagegen sind sie dennoch nicht. "Da ist viel schiefgelaufen. Aber das Vorhaben an sich ist gut und sinnvoll. Wenn jedes Infrastrukturprojekt verhindert worden wäre, säßen wir hier noch auf Bäumen."

Das Projekt kostet die Stadt Leipzig aufgrund der Finanzierungsverträge auch heute kaum mehr als die vorgesehenen 12,78 Millionen Euro. Auf den ersten Blick ein gutes Geschäft. Ein alter Traum wird Realität, praktisch kostenlos. Die Kostenexplosion bleibt vor allem im Landeshaushalt hängen. Irgendwo aber muss dort das Geld herkommen. Über die Hintertür ist das Haushaltsloch auch in der Messestadt angekommen: in Grünau am Rande von Leipzig. Eine Plattenbausiedlung, in der mal an die 80.000 Menschen lebten. Heute sind es noch 45.000. Der Freistaat hat die S-Bahn- Verbindung von Grünau zum Bahnhof stillgelegt, um zehn Millionen Euro pro Jahr zu sparen. Nach Eröffnung des Tunnels soll der Betrieb wieder aufgenommen werden.

In ein paar Jahren wird der Tunnel fertig sein. Wahrscheinlich wird das Ganze am Ende mehr als eine Milliarde Euro gekostet haben, und irgendwie wird es nicht so genutzt werden, wie man hoffte. Aber er wird fertig sein. Und alle werden ihn gut finden, das ist die Theorie. Külow sagt: "Wahrscheinlich kommt es so, leider."


Wunsch: „Wir müssen prüfen, ob es möglich ist, vom Hauptbahnhof nach dem Bayerischen Bahnhof eine durchgehende Bahnverbindung zu schaffen, die uns die günstigste Möglichkeit des Durchgangsverkehrs eröffnet.“ Das sagte Leipzigs OB Erich Zeigner kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die mangelnden materiellen und technischen Möglichkeiten verhinderten lange die Realisierung dieser innerstädtischen Magistrale. Durch die Verwirklichung dieses lang gehegten Wunsches werden die beiden Kopfbahnhöfe teils zu einem Durchgangsbahnhof, was das bisher nötige Umsteigen im S-Bahnverkehr verhindert und die Anbindung der Region deutlich verbessern soll.

Wirklichkeit: Der Rechnungshof geht davon aus, dass die Einhaltung der derzeit prognostizierten Gesamtkosten von 960 Millionen Euro „möglich“ sei. Die Mehrkosten seien zumindest schlüssig. Die Prüfer empfehlen dem Freistaat Sachsen aufgrund des „unvorteilhaften Vertragswerks“ zu prüfen, ob es Möglichkeiten gibt, die anderen Partner an den gestiegenen Kosten zu beteiligen. Neben dem Land sind die Bahn, die Stadt und die EU beteiligt.