Der bisher längste Streik in der Geschichte der Bahn trifft sehbehinderte Menschen besonders hart: Sie können nicht aufs Auto ausweichen. Die Stuttgarter Nikolauspflege kritisiert die Haltung der Bahn dazu.

Stuttgart - In diesen Tagen beeinträchtigt der bisher längste Streik in der Geschichte der Deutschen Bahn den Personenverkehr stark. Die Geduld von Millionen von Pendlern und Reisenden wird auf die Probe gestellt. Die meisten wissen sich zu helfen, indem sie zum Beispiel aufs Auto umsteigen oder längere Wege in Kauf nehmen.

 

Für Menschen mit Handicap ist ein solches Ausweichen hingegen ungleich schwieriger bis nahezu unmöglich. „Bei den vergangenen Streiks bin ich gar nicht nach Stuttgart gekommen. Dieses Mal ist der Notfallfahrplan etwas besser, aber dennoch bin ich auf die Hilfe anderer Reisender angewiesen“, sagt Barbara Göbbel, die blind ist und im Rahmen einer beruflichen Rehabilitation im kaufmännischen Bereich täglich zur Nikolauspflege nach Stuttgart fahren muss. Laut Stefanie Krug, Sprecherin der Spezialeinrichtung für Menschen mit Sehbehinderung, würde der Schul- und Ausbildungsbetrieb auf Grund des Streiks regelrecht zusammenbrechen. „Am Montag haben wir 30 Schüler nach Hause geschickt“, sagt Elke Wagner, die stellvertretende Leiterin der Tilly-Lahnstein-Schule. „Die Schüler kommen aus ganz Deutschland von Husum bis Rosenheim. Sie sind auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, wenn sie am Wochenende zu ihren Familien fahren.“ Erschwerend komme hinzu, dass diese Woche baden-württemberg-weit Prüfungen im kaufmännischen Bereich stattfinden. „Eine Ausbilderin musste ihren Prüfling mit dem Auto in Esslingen abholen“, erzählt Krug. Damit nicht genug, sei ein schon lange anberaumtes Ehemaligentreffen des Berufsbildungswerks in Stuttgart am kommenden Wochenende, zu dem mehrere Hundert Teilnehmer erwartet wurden, für viele nun nicht erreichbar. Wagner, die selbst fast blind ist, beschreibt das Bahnfahren an Streiktagen als „belastend“ und „angstbehaftet“. Besonders für ihre Schüler sei die Situation kaum zumutbar. „Ich bin schon erfahrener und traue mich wenigstens, andere Leute anzusprechen, das ist bei den Schülern noch nicht immer der Fall“, sagt sie.

Verkehrsunternehmen fühlen sich nicht verantwortlich

Dass die Deutsche Bahn im Streikfall die Lage behinderter Menschen nicht berücksichtigt, stößt bei der Nikolauspflege auf Unverständnis. Zuletzt habe man sich, so Krug, anlässlich der Streikwoche im November 2014 mit einem offenen Brief an die Behindertenbeauftragten der überregionalen und städtischen Verkehrsbetriebe gewandt. Das Bedauern sei jeweils in unterschiedlicher Qualität geäußert worden. Die Reaktion der Bahn habe seinerzeit gelautet: Eine Zusage auf ein Unterstützungsangebot könne es nicht geben, die Betroffenen sollten am besten zu Hause bleiben. „Die Problemlösung ist in den Privatbereich verlegt, die Blinden verschwinden aus dem Sichtfeld“, beklagt Krug.

Elke Wagner weist auf die Behindertenrechtskonvention hin: „Wir haben einen Anspruch auf soziale Teilhabe und Inklusion.“ Ihre Forderung deshalb : „Dass wir uns zusammen hinsetzen und das Problem angehen, anstatt wegzuschauen.“