Frankreichs Eisenbahner ziehen für den Erhalt ihrer Privilegien in den Arbeitskampf.

Paris - An dem Gerücht ist nichts dran. Aber es hält sich hartnäckig. Frankreichs Eisenbahner kassierten noch immer Kohlezuschläge, wird gemunkelt. Jene aus dem Zeitalter der Dampflokomotive stammenden Prämien sind das, die dafür entschädigen sollen, dass man bei der Arbeit Kohletendern nahekommen, sich dreckig machen kann.

 

Die Vorstellung, die Staatsbahn SNCF würde ihre Beschäftigten mit Schmutzzulagen beglücken, ist ja auch nicht aus der Welt. Ein Gutteil der Privilegien, die Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron im Rahmen einer SNCF-Reform auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen will und für deren Erhalt die Eisenbahner seit Sonntag wieder streiken, stammt aus längst vergangenen Zeiten. Das beginnt beim prinzipiell unkündbaren Arbeitsplatz. Und es endet noch lange nicht bei regelmäßig fälligen Gehaltserhöhungen. Zu den im sogenannten Eisenbahner-Statut fixierten Vorrechten zählt auch Gratisbeförderung für die ganze Familie. Für die Schwiegereltern gibt es ebenfalls Freifahrten. Nicht zu vergessen die Ferien: SNCF-Beschäftigte haben Anspruch auf 38 bis 50 Urlaubstage.

Am meisten beeindruckt die aus dem Jahr 1909 stammende Alterssicherung. Lokführer dürfen mit 52, Schalterbeamte mit 57 Jahren in Pension gehen. Die volle Rente gibt es zwar erst nach 41 Berufsjahren. Darben müssen Eisenbahner im Ruhestand aber trotzdem nicht. Die Pension bemisst sich nach dem Gehalt der letzten sechs Arbeitsmonate, in denen das kontinuierlich steigende Salär seine maximale Höhe zu erreichen pflegt. 75 Prozent davon bekommt der Ruheständler ausgezahlt sowie diverse Prämien, die ihm auch nach dem Ende des Berufslebens zustehen. Da dies allein aus Sozialbeiträgen der zurzeit 150 000 SNCF-Beschäftigten nicht einmal zur Hälfte zu finanzieren ist, springt der Staat in die Bresche. Im Jahr 2016 hat er 3,3 Milliarden Euro zugeschossen.

Der Besitzstand der 150 000 Mitarbeiter bleibt gewahrt

Herkömmlichen Arbeitnehmern muss dies vorkommen wie das Schlaraffenland. In der Privatwirtschaft Beschäftigte haben Anspruch auf fünf Wochen Urlaub und dürfen mit 62 Jahren in Pension gehen. Die Höhe der Rente bemisst sich nach den 25 Berufsjahren mit dem höchsten Einkommen. Wer weniger als 43 Jahre in die Pensionskasse eingezahlt hat, muss Abzüge in Kauf nehmen. Das Urteil der Bevölkerung über das Eisenbahnerstatut fällt entsprechend eindeutig aus. Laut einer Erhebung des Instituts Elabe halten 69 Prozent der Franzosen die Privilegien der SNCF-Beschäftigten für nicht mehr zeitgemäß. Der Staatschef hat die öffentliche Meinung auf seine Seite gebracht und wird das Kräftemessen mit den Gewerkschaften klar für sich entscheiden, lautet die naheliegende Prognose.

Für einen Reformerfolg spricht zudem, dass Macron den SNCF-Beschäftigten weniger wegnehmen will, als die empörten Reaktionen vermuten lassen. Der Besitzstand der 150 000 Mitarbeiter bleibt gewahrt. Allein neu anheuernde Arbeitskräfte sollen auf die Segnungen des Statuts verzichten. Hinzu kommt, dass die Notwendigkeit einer SNCF-Reform außer Frage steht. Auch Gewerkschafter räumen ein: Die mit 50 Milliarden Euro verschuldete SNCF muss sich neu aufstellen, soll sie im Wettbewerb mit der vom nächsten Jahr an zu erwartenden internationalen Konkurrenz mithalten können.

Doch der vermeintlich naheliegende Erfolg ist nicht in Sicht, im Gegenteil. Das Volk, das doch die Privilegien der Eisenbahner für nicht mehr zeitgemäß erachtet, scheint sich auf die Seite der Arbeitskämpfer schlagen zu wollen. Hatten Mitte März noch 38 Prozent der Franzosen die Streiks für gerechtfertigt erachtet, waren es laut der Elabe-Umfrage nach den ersten Arbeitsniederlegungen bereits 44 Prozent. Dabei ist das Volk Hauptleidtragender. Mit dem Ziel, den Bahnverkehr immer mehr durcheinanderzubringen, planen die Gewerkschaften dicht aufeinanderfolgende Streiks. Bis Ende Juni soll in stetem Wechsel an drei Tagen gearbeitet und an den zwei folgenden gestreikt werden.

Macron bringt es nur noch auf 40 Prozent Zustimmung

Nicht die Gewerkschaftsbewegung, der Staatschef verliert an Rückhalt. In einer am Samstag vom „Figaro“ veröffentlichten Umfrage bringt es Macron nur noch auf 40 Prozent Zustimmung – ein Minus von vier Punkten im Vergleich zum Vormonat. Das auf den ersten Blick widersprüchlich anmutende Meinungsbild – breite Ablehnung der Eisenbahner-Privilegien, wachsendes Verständnis für den Streik zum Erhalt derselben – wird stimmig, wendet man sich den Motiven zu. Die den Arbeitskämpfern bekundete Solidarität zeugt nicht vom Wunsch, es möge ihnen besser gehen als anderen Werktätigen. Sie zeugt von dem Wunsch, die SNCF als letzte Hochburg des sich aus der Wirtschaft zurückziehenden Staates zu bewahren: als ein weniger dem Gewinnstreben als dem Gemeinwohl verpflichtender Dienstleister; als Sinnbild eines Sozialstaats, auf den die Franzosen stolz sind, der nationale Identität stiftet. Vor diesem Hintergrund mögen die als nicht mehr zeitgemäß erachteten sozialen Errungenschaften der Eisenbahner genauso akzeptabel erscheinen wie der Unterhalt gänzlich unrentabler Strecken auf dem Land, wo auf 9000 Kilometern Schiene zwei Prozent der Passagiere unterwegs sind.

Dass die SNCF lange Zeit als Wegbereiter des technischen Fortschritts Furore machte, im Hochgeschwindigkeitsverkehr international Maßstäbe setzte, hat Stolz und Verbundenheit noch gemehrt. „Die Franzosen und die SNCF“, das war Liebe auf den ersten Blick“, sagt der Historiker Georges Ribeill. Angeführt von der kommunistisch geprägten Confédération Générale du Travail (CGT) versuchen die Gewerkschaften, mit dem Sympathiekapital der SNCF zu wuchern. Sie versichern, nicht für den Erhalt überkommener Privilegien in den Arbeitskampf zu ziehen, sondern für den Sozialstaat, fürs Gemeinwohl. „Die Streiks dienen den Interessen der Allgemeinheit“, beteuert der CGT-Gewerkschaftsführer Bernard Thibault. Er warnt vor einer Privatisierung der SNCF, die Macron in eine Aktiengesellschaft umwandeln will. Dass die Reform festschreibt, dass die Anteile unveräußerlich sind und dauerhaft in Staatsbesitz zu bleiben haben, sagt Thibault nicht.

Macron und seine Regierung haben aus dem wachsenden Beistand für die Streikenden Konsequenzen gezogen. Der Staatschef schlägt zunehmend vorsichtige, wenn nicht versöhnliche Töne an. „Immer wieder mal kommt Unruhe auf, manchmal ist sie berechtigt“, hat er am Donnerstag gesagt. Für die Regierung gehe es nun darum, die Reform geduldig zu erläutern.