Ein Bahnpapier zeigt: die Stuttgart-21-Baustelle im Hauptbahnhof der Landeshauptstadt führt zu chronischen Zugverspätungen überall in Baden-Württemberg. Der Grund ist vor allem die Sperrung von Gleis 10.

Stuttgart - Die Bauarbeiten für Stuttgart 21 werfen ihren Schatten auf den Bahnbetrieb im Südwesten. Von Aalen über Aulendorf bis Sigmaringen und Ulm beschweren sich Fahrgäste über die zunehmende Unpünktlichkeit der Nahverkehrszüge. So erreichten am Vergleichstag, dem 21. Dezember 2012, in Aulendorf (Kreis Ravensburg) nur 29 von 77 Züge den Bahnhof nach Fahrplan oder mit weniger als zwei Minuten Verspätung. Ein ähnliches Bild herrscht in Ulm: dort kamen am Vergleichstag von 233 Zügen nur 99 rechtzeitig an. In Sigmaringen waren es 18 von 51 Zügen, in Plochingen 41 von 149.

 

Die Beispiele stammen von einer Liste mit Zahlen aus dem Qualitätsmanagementsystem der Deutschen Bahn, die der StZ vorliegt. Die Beispiele ließen sich fortsetzen mit anderen Bahnhöfen. Die von der Bahn geforderten Pünktlichkeitswerte waren in jüngster Zeit immer erreicht worden. Jetzt ist man weit davon entfernt.

Im Stuttgarter Hauptbahnhof ist das Gleis 10 gesperrt

Die Ursache für die viel Ärger und Verdruss nach sich ziehende Unpünktlichkeit ist in der Landeshauptstadt zu suchen. Im Stuttgarter Hauptbahnhof ist der Zugverkehr seit Herbst 2012 weit von der selbst geforderten Zuverlässigkeit entfernt. Von 216 ankommenden Zügen erreichten die Bahnsteige am Vergleichstag nur 62 oder – anders berechnet – 28,7 Prozent mit einer Verspätung von weniger als zwei Minuten. Die Bahn stellt offiziell eine etwas andere, leicht geschönte Rechnung auf. Intern „Mehdorn-Pünktlichkeit“ genannt wird eine angestrebte Zeit, laut der ein Zug noch fahrplanmäßig verkehrt, wenn er maximal fünf Minuten 59 Sekunden nach seiner vorgegebenen Zeit eintrifft. 95 Prozent aller Züge sollen diese Vorgabe schaffen. Aber selbst wenn nicht zwei, sondern knapp sechs Minuten als Grenze zur Verspätung gezogen werden, ist es mit der Pünktlichkeit nicht mehr weit her. In Stuttgart lag auch dieser Wert weit im roten Bereich, nämlich bei 84,26 Prozent. Und rot statt grün wurden die entsprechenden Werte auch in Aulendorf, Ulm, Plochingen oder Sigmaringen markiert.

Wann die Sperrung aufgehoben wird, ist unklar

Aus den internen Messprotokollen lässt sich somit ableiten, dass die Probleme des Stuttgarter Hauptbahnhofs den Bahnverkehr in ganz Württemberg nachhaltig beeinflussen. Die Schwierigkeiten im wichtigsten Bahnknotenpunkt des Landes begannen mit drei Zugentgleisungen im Juli, September und Oktober 2012. Von der Lok mit besonders vielen und auch langen Waggons geschobene Züge sprangen an der Weiche 227 im für Stuttgart 21 stark verkürzten und mit engeren Kurvenradien versehenen Gleisvorfeld des Bahnhofs von den Schienen.

Seit diesen Zwischenfällen ist das für den Fernverkehr wichtige Gleis 10 gesperrt. Es ist noch immer nicht abzusehen, wann diese Sperrung durch das Eisenbahn-Bundesamt wieder aufgehoben wird. Hinzu kommt, dass das seit dem Abriss der beiden Gebäudeflügel windanfällige Bahnhofsdach durch Betonklötze abgestützt werden muss. Diese schränken die Nutzung von Gleis 8 um zwei Drittel ein. Zudem kann Gleis 8 auf dem Ferngleis von Cannstatt her nicht mehr angefahren werden, was weitere Störungen im Fahrplan nach sich zieht.

Dass Gleis 10 nicht zur Verfügung steht, hat auch massive Auswirkungen auf den Bauzeitplan von Stuttgart 21. Denn für die Verlegung der Gleise um 120 Meter weg vom Empfangsgebäude müssen, um Platz für die Baugrube des Tiefbahnhofs zu schaffen, immer zwei Gleise zugleich gesperrt werden. Für die Verlegung steht derzeit nicht genügend Gleiskapazität zur Verfügung. Laut Plan sollten die Arbeiten längst abgeschlossen sein, nun ist von der Jahresmitte 2013 die Rede, weitere Verzögerungen werden nicht ausgeschlossen.

Eigentlich müssten Züge gestrichen werden

Solange die Engpässe in Stuttgart bestehen, wird der Bahnverkehr in anderen Städten leiden. Denn die Fahrpläne sind in den meisten Fällen zu eng, um Verspätungen aufzuholen. Beim Beispiel Aulendorf kommt hinzu, dass die Lokomotive in Ulm gewechselt werden muss, weil die Südbahn nicht elektrifiziert ist. Das kostet Zeit. Die Strecke Stuttgart–Sigmaringen wird hinter Tübingen eingleisig; hier sind wegen der entgegenkommenden Züge verlorene Minuten kaum gutzumachen. Damit die Züge wieder pünktlich werden, müsste ein neuer Fahrplan erstellt werden mit weniger Zügen im Stuttgarter Hauptbahnhof. Fernzüge würden über Esslingen umgeleitet, Regionalzüge würden in Bahnhöfen wie Backnang oder Bietigheim enden.

Die Strecke Stuttgart-Tübingen als meistgenutzte Nahverkehrsstrecke im Land ist von den Verspätungen vergleichsweise wenig betroffen. Von 156 Zügen kamen am Vergleichstag 113 maximal zwei Minuten zu spät an, nur fünf verpassten die reguläre Ankunftszeit um sechs Minuten und mehr. Das hängt damit zusammen, dass der Regionalexpress Stuttgart–Tübingen in Stuttgart von Gleis 2 abfährt und von den Überlastungen im Gleisvorfeld kaum betroffen ist. Am besten schneidet Horb ab. Von 77 Zügen verpasste nur einer die planmäßige Ankunftszeit um mehr als sechs Minuten. Der Grund: in Eutingen im Gäu bleiben die Züge einige Minuten stehen, weil die Hälfte der DB-Regio-Züge dort geteilt wird, um anschließend nach Horb beziehungsweise Freudenstadt zu fahren.