Der Tag ist nicht nur zum Shoppen da – an diesem Samstag rufen Künstler auf dem Balkon des Stuttgarter Opernhauses die „Europäische Republik“ aus.

Stuttgart -

 

Zu den mit Bedeutung aufgeladenen Kalenderdaten, auf die sich Politiker häufig beziehen, gehören die Tage zwischen dem 9. und 11. November. Das Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und die Ausrufung der Weimarer Republik, die gewaltsamen Pogrome gegen Juden 1938 und die friedliche Revolution 1989: Die sich jetzt jährenden Ereignisse häufen eine Erinnerungssymbolik auf, deren Wucht sich auch das „European Balcony Project“ zunutze machen will. An diesem Samstag, 10. November, 16 Uhr, rufen Kulturschaffende in vielen europäischen Städten die „Europäische Republik“ aus. Wohlgemerkt: nicht die Union, die von Technokraten und Nationalisten in die tiefste Krise ihrer Geschichte gestürzt worden ist, sondern die Republik, eine von Bürgern gewählte Staatsform.

Mehr als 250 Kulturinstitutionen beteiligen sich an der vom Schriftsteller Robert Menasse und der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ins Leben gerufenen Balkonperformance, darunter das Nationaltheater Gent, das Burgtheater Wien, das Hamburger Thalia-Theater und das Berliner Ensemble. Ebenfalls dabei: die Stuttgarter Staatstheater. Wer am Samstag zum Eckensee kommt, wird nachmittags um vier auf dem klassizistischen Balkon des Opernhauses eine Versammlung von Künstlern und Künstlerinnen sehen, die allerdings nicht nur aus dem Staatstheater kommen, sondern unter anderem aus dem Alten Schauspielhaus, dem Theaterhaus, dem Kunstmuseum und vom Pulse of Europe. Insgesamt zehn Einrichtungen bilden die Stuttgarter Basis für die Ausrufung der neuen Republik. Im Zentrum der rund halbstündigen Aktion, die mit der Europahymne „Ode an die Freude“ endet, steht die Verlesung des Gründungsmanifests in allen den Künstlern zur Verfügung stehenden Muttersprachen.

Und der Europarat wird abgesetzt

„Heute, hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, der auf Jahrzehnte die europäische Zivilisation zerstört hatte, gedenken wir nicht nur der Geschichte, sondern nehmen unsere Zukunft selbst in die Hand“, heißt es in der Proklamation von Guérot und Menasse, dessen Brüssel-Satire „Die Hauptstadt“ im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Weiter heißt es: „Das Europa der Nationalstaaten ist gescheitert. Die Idee des Einigungsprojekts wurde verraten. Der Binnenmarkt und der Euro konnten ohne politisches Dach zur leichten Beute einer neoliberalen Agenda werden, die der Idee der sozialen Gerechtigkeit widerspricht.“ Deshalb müsse – die Projekterfinder denken an die Europawahl 2019 – die Macht in den Institutionen erobert werden. Der Europarat sei abgesetzt, stattdessen werde das EU-Parlament eine europäische Regierung wählen, die dem Wohle aller Bürgerinnen und Bürger verpflichtet sei.

Man muss nicht jeder Forderung der weitreichenden Erklärung zustimmen, aber ihre visionäre Stoßrichtung – gegen das Erstarken des Nationalismus, für ein demokratisches, gerechtes, offenes Europa – ist begrüßenswert. Einer der Stuttgarter Balkonredner wird Oliver Frljic sein. Der kroatische Regisseur baut im Schauspiel von Burkhard Kosminski gerade das Europa-Ensemble mit Spielern aus Warschau, Zagreb und Athen auf. Als politischer Kopf, der er ist, sorgt er sich sehr um die Demokratie auf dem Kontinent: „Viele Länder, gerade auch in meiner Heimat Ex-Jugoslawien, sind auf dem Weg in antiliberale Demokratien“, sagt der 42-jährige Frljic, der sich freuen würde, wenn seine Ausrufung der Europäischen Republik auf Resonanz stoßen würde. Selbst in Stuttgart ist der Samstag ja nicht nur zum Shoppen da.