Hilfe, wir sinken! Von Untergängen und gefährdeten Tiefen erzählt der Tanzabend des Pforzheimer Balletts im Pforzheimer Gasometer.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart/Pforzheim - „Hilfe, das Schiff sinkt!“ Die Fische im Hintergrund glotzen gleichmütig auf die Szenen der Katastrophe: Der Kapitän kämpft mit dem Steuerrad, die Mannschaft hetzt treppauf und treppab, Passagiere verharren in eigenwilliger Apathie. Eine schönere Kulisse kann man sich zum Sterben nicht wünschen: Am 23. März 1911 sank das australische Dampfschiff SS Yongala auf dem Weg von Melbourne nach Cairns am Great Barrier Reef mit 122 Menschen an Bord.

 

„Diving the Yongala“ heißt eines von drei Tanzstücken, die noch bis zum 2. Juni im Gasometer in Pforzheim zu sehen sind. Das Untergangsdrama kommt nicht von ungefähr auf die ungewöhnliche Bühne. Ein Panorama des Great Barrier Reef lässt in dem Ausstellungsrund des Gasometers derzeit abtauchen in eine Unterwasserwelt, in die Korallen, Fische und das Blau der Meerestiefe faszinierende Farbspiele zaubern. Zu sehen ist ein Kosmos, in dem alles in perfektem Einklang scheint, Meereserwärmung und Korallenbleiche sind hier kein Thema. Während das Fotopanorama die Fragilität dieses Gleichgewichts allenfalls andeutet, macht der Choreograf Edan Gorlicki die Katastrophe zum Thema: Geisterhaft lässt er das 12-köpfige Ensemble agieren – selbst dann, als die Tänzer nach dem Untergang mit der berstenden Energie eines Fischschwarms über den Grund pulsieren.

Raus in die Stadt

Dass im Gasometer überhaupt getanzt wird, ist dem Pforzheimer Ballettchef Guido Markowitz zu verdanken, der seine Kunst raus in die Stadt trägt, um ihr neue Perspektiven und Zuschauer zu ermöglichen. Auch einen Austausch mit der schwedischen Partnerstadt Linköping hat er in diesem Sinne angeregt. Ein sechsköpfiges Choreografen-Kollektiv von dort zeichnet nun verantwortlich für die Ouvertüre des Ballettabends „Tanz Pur 4“ , die eine Tänzerin mit lampionhafter Kopfbedeckung und im Rahmen eines vorgegebenen Rahmens improvisieren lässt. Eleonora Pennacchini füllt in „Meanwhile – Inzwischen“ den Raum mit mächtigen Bewegungen. Zwischen Agieren und Reagieren, zwischen Handeln und Zögern changiert Damian Gmürs Beitrag „Wolken, die uns nicht tragen“ – und passt ebenfalls perfekt in den Kosmos der von Menschen gefährdeten Natur: Ein Tänzer hängt da wie ein Fisch am Haken, zwei Paare machen im Dialog untereinander und mit dem menschlichen Pendel Spannungen greifbar. Einen Status quo, der ein Ausruhen erlauben würde, gibt es hier nicht.

Am Ende führt Edan Gorlicki das Publikum nach oben, um seinem Untergangsszenario die maximale Fallhöhe zu geben. Wer seine 2017 und 2019 mit dem Theaterpreis von Stadt und Land Stuttgart ausgezeichneten Stücke im Theater Rampe gesehen hat, mag sich über das historische Outfit seiner Neukreation und die gebremste Energie seines sonst fast aggressiv attackierenden, intensiven Bewegungsflusses wundern. Doch Gorlicki, der mit seiner freien Arbeit die Szenen in Heidelberg, Mannheim und Stuttgart verknüpft und nun im Stadttheater choreografiert, lässt die Yongala-Opfer wie Geister wiederkehren, als Schemen unerfüllter Hoffnungen – und als Menetekel kommenden Unglücks.