Die Zeichen stehen auf Abschied beim Stuttgarter Ballettabend: „Die Fantastischen Fünf“, Reid Andersons Choreografie-Entdeckungen aus den Reihen der Kompanie plus der Noch-Hauschoreograf Marco Goecke, sagen ihrem Mentor Adieu.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - So fühlt es sich also an, wenn ein Großer geht. Dass es für den Hauschoreografen Marco Goecke beim Stuttgarter Ballett keine Zukunft gibt, weiß man seit einem Jahr. Eine Nachricht, die man registriert, bewertet, ad acta legt. Das Leben geht weiter. Im Schauspielhaus aber, bei der Uraufführung von Goeckes „Almost Blue“, ist dieser vom designierten Ballettintendanten Tamas Detrich in die Wege geleitete Weggang jedoch nichts mehr, was man wegschieben kann. Er ist pure Emotion. Was schwingt da alles mit: Verzückung, Leidenschaft, Kraft. Trauer, Wut, Schmerz. Große Dankbarkeit, das auch. Vor allem aber eine beseelte Liebe zum Tanz.

 

All dies ist Imagination. Was aber sieht man de facto, während zu Beginn von „Almost Blue“ die Melancholie von Antony Hegartys brüchiger Stimme in den Theaterraum weht? Man sieht die aus dem Bühnenschwarz nach vorne huschenden Tänzer, wie immer in schwarzen Hosen und mit nackten Oberkörpern; bei manchen umhüllen schwarze Samthandschuhe die abgespreizten Arme hoch bis zum Bizeps und verstümmeln sie optisch zu Rumpf-Wesen.

Man versucht, ihre Muskel- und Gliederzuckungen, ihr nervöses Flattern und Zittern zu erfassen, hört ihr Flüstern und Jaulen, man schaut auf die messerscharfen Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer (eine Entdeckung: Alessandro Giaquinto), die den Raum zerschneiden und Paare dennoch zu Yin und Yang verschweißen. Man sieht, wie der Bühnen- und Kostümbildner Thomas Mika aus bodenlangen schwarzen Frauenröcken Nebelschwaden aufsteigen lässt oder wie Baggerschaufeln aus der Höhe braunen Kies auf die Bühne schütten. Kurzum: man erlebt diesen rätselhaften, wunderschönen Bewegungs- und Bilderkosmos, der sich dem rationalen Begreifen entzieht. Und kann nicht anders, als davon ergriffen zu sein. Begriffen aber hat man etwas anderes schon längst: Goeckes Geniestreiche wird man jetzt nicht mehr als allererstes in Stuttgart erleben, sondern in Hannover, wo der international gefragte Tanzmacher, entdeckt in Stuttgart und „made by Reid Anderson“, von der übernächsten Spielzeit an Ballettdirektor wird.

Das Publikum jubelt, Goecke ist gerührt

„Almost Blue“ ist der Höhe- und Schlusspunkt des mehr als dreistündigen Abends, das Publikum verbeugt sich vor dem gerührten Goecke mit minutenlangem Applaus im Stehen. Auf Abschied stehen die Zeichen freilich von Anfang an: „Die Fantastischen Fünf“ – das sind neben Goecke die vier Tänzer-Choreografen des Stuttgarter Balletts, die von Reid Anderson in den Reihen der Kompanie mit untrüglichem Instinkt für Talent entdeckt, gefördert und gefordert worden sind. Mit den fünf Uraufführungen erweisen Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Roman Novitzky und Fabio Adorisio ihrem scheidenden Mentor ihre Reverenz – und beenden gleichzeitig eine Phase ihres eigenen Leben. Das Publikum feiert sie gebührend – und am meisten feiert es wohl Katarzyna Kozielska, welche die Kompanie verlässt.

In „Take your Pleasure seriously“ blickt sie auf ihre Stuttgarter Zeit zurück. Zwanzig Jahre, in denen sie nicht nur von der Cranko-Schülerin zur Halbsolistin avancierte, sondern auch die Liebe zum Choreografieren entdeckte. Und Tanz – das ist bei der gebürtigen Polin eben nicht nur Leidenschaft und Vergnügen, sondern auch eine Präzision und Ernsthaftigkeit, die bei ihren jeweils sechs, in glutrot-pechschwarze Bodysuits gehüllten Tänzerinnen und Tänzern fast dämonische Züge annimmt. Kozielska lässt die Frauen mit hochaufgetürmten Haaren auf Spitze wie Spinnen über die Bühne staken und führt sie zu einem aufgepeitschten Blockbuster-Sound mit den Männern zu spannungsgeladenen Duetten zusammen. Die Choreografin variiert Tempi, sie zoomt auf Details und hat doch den Blick fürs große Ganze. Bachs „Italienisches Konzert“, von Paul Lewis am Flügel auf der Bühne gespielt, bringt musikalisch wie atmosphärisch den Bruch: Die Corps-de-ballet-Mitglieder Diana Ionescu und Daniele Silingardi zeigen den betörenden, nackten Kern des Tanzes. Die neue Tänzergeneration – sie steht bereit. Und sie präsentiert sich den ganzen Abend über technisch in tadelloser Verfassung.

Der betörende, nackte Kern des Tanzes

Schärfe, Spannung, Struktur – was Kozielska hat, muss bei Fabio Adorisio noch heranreifen. Der Italiener, der jüngste der „Fanta Fünf“, ist 2013 unter die Schrittmacher gegangen und arbeitet gern mit Auftragskompositionen. Das beflügelnde Streichquintett für „Or Noir“, live auf der Bühne gespielt, komponierte Nicky Sohn, es ist ihre zweite Zusammenarbeit. Adorisio ließ sich vom japanischen Kintsugi inspirieren, einer jahrhundertealten Methode, Porzellan und Keramik zu reparieren. Der Makel, so die dahinter stehende Philosophie, soll nicht kaschiert werden, vielmehr veredelt er das Objekt zum Original. Adorisio formiert sein zehnköpfiges Personal vorzugsweise zu Paaren, erfindungsreich variiert er die im Klassischen verankerten Bewegungen und Formationen – und findet doch keinen Punkt, kein Komma, keinen Gedankenstrich. Die feinen Risse auf den schwarzen Tänzertrikots, die auf Kintsugi verweisen, hätte man gern viel deutlicher in dieser etwas zu ebenmäßigen Choreografie gesehen.

Den Bruch, den radikalen, liefert sein Kompanie-Kollege Louis Stiens. Er ist der Revoluzzer unter Andersons Choreografie-Kindern, der Querdenker, der keine Tabus kennt, die klassische Ballettsprache in die Ecke stellt und stattdessen die Club-Codes in den Tanzsaal holt. Mit den elaborierten Tanz-Deklinationen Adorisios hat der Halbsolist, der privat Platten auflegt, nichts am Hut. Stiens holt in „Skinny“ Elisa Badenes und Angelina Zuccarini zu Meeresrauschen aus den Tiefen des Ozeans und lässt in der Folge ein elektronisches Soundgewitter des DJs Der Kindestod auf sie und die übrigen elf Protagonisten krachen. Viel Lärm um nichts? Erst in der zweiten Hälfte gewinnt „Skinny“ an choreografischer Kontur und Eigenwilligkeit und geht schließlich mit einem intensiven Duett von David Moore und Elisa Badenes doch noch unter die Haut.

Stiens, der Rebell – Novitzky, der Geschichtenerzähler

Ist Stiens der Rebell, dann ist Roman Novitzky der Geschichtenerzähler. Auch ihn interessiert, was unter der Oberfläche pulsiert. In „Under the Surface“, das den Abend wohlgelaunt eröffnet, nimmt der Erste Solist, der choreografisch schon mehrfach bei Noverre-Abenden überzeugt hat, Zwischenmenschliches unter die Lupe. Zu einem beschwingten Musikmix erzählen seine Tanzepisoden von Begegnungen, Verführungen, Machtspielen und verpassten Chancen. Novitzky hat Charme und Witz und erfindet originelle Details – und seine Tänzerinnen und Tänzer legen eine umwerfende Leichtigkeit an den Tag. Mitreißend gerät der Erzählrahmen: Novitzky versammelt sein achtköpfiges Ensemble unter einer schlichten Glühbirnen-Kette an einem Tisch und lässt zu rasanter Percussion synchrone Bewegungs-Eruptionen durch sie hindurchfließen.

Was bleibt nach so viel choreografischer Vielfalt und Individualität dieser „Fantastischen Fünf“? Die Hoffnung, dass Tanz made in Stuttgart auch in Zukunft in die Welt hinausgetragen wird.