Im Osmanenprozess in Stammheim berichten drei Augenzeuginnen von einem brutalen Überfall einer Horde Vermummter auf einen 24 Jahre alten Mann. Das Opfer zeigt sich wenig gesprächig – und die Ankläger stehen vor einem Problem.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Ludwigsburg - Es ist eine Horrorvorstellung. Eine junge Frau geht eine dunkle Straße entlang, es ist spät, nur die Straßenlaternen sorgen alle paar Meter für funzeliges Licht. Als sie eine Seitenstraße passiert, verlangsamt sie den Schritt, glaubt Köpfe zu erkennen, dunkle Körper, und plötzlich nähern sie sich. Mehr und mehr Menschen tauchen aus dem Dunkel auf und treten in den Schein der Lampen, 15 Leute, 20, vielleicht sogar 30. Alle sind vermummt, tragen schwarze Sturmhauben über dem Gesicht. Kurze Erleichterung, als die Horde an der Frau vorbei läuft, aber die Szene ist nicht vorbei. Der Mob hat es nicht auf sie abgesehen, sondern auf jemand anderen, auf einen Mann, der wenige Meter vor ihr läuft. Ein Vermummter ruft etwas, und wie auf Kommando öffnen die Gestalten ihre Jacken und greifen nach Baseballschlägern. Wenige Minuten später ist alles vorbei, die Schläger sind wieder im Dunkel verschwunden, und auf dem Asphalt liegt ein blutender Mann.

 

So ähnlich muss es gewesen sein am 21. November 2016, kurz nach 21 Uhr, in der Karlstraße in Ludwigsburg, unweit des Bahnhofs. Drei junge Frauen haben am Donnerstag im Stammheimer Prozess gegen hochrangige Mitglieder des Boxclubs Germanen Osmania ausgesagt, alle drei haben das Geschehen damals aus nächster Nähe beobachtet. „Ich war geschockt“, schilderte etwa eine 23-Jährige Studentin. „So etwas habe ich nie zuvor erlebt.“ Ein Vermummter habe eine Machete gezogen, die anderen hätten mit den Baseballschlägern mit voller Wucht auf das Opfer eingeschlagen.

Der Anführer soll die Schläger aufgefordert haben, nicht vom Opfer abzulassen

Die drei Zeuginnen erklärten unisono, dass einer der Vermummten die anderen dabei angefeuert und aufgefordert habe, nicht nachzulassen. „Macht weiter, weiter, los“, soll er gerufen haben, während das Opfer am Boden lag und sich nur noch die Hände vors Gesicht hielt. „Ich dachte, der ist tot“, erzählte eine Zeugin. Tatsächlich hatte der 24-Jährige unwahrscheinliches Glück. Er kam zwar mit Hämatomen am ganzen Körper, einer blutenden Platzwunde am Kopf und schweren Schwellungen an Armen und Händen ins Krankenhaus. Aber es hätte viel schlimmer ausgehen können. Der Staatsanwaltschaft ist überzeugt: „Es blieb dem Zufall überlassen, ob die Verletzungen zum Tode führen.“

Die Polizei leitete damals sofort eine Großfahndung in der Innenstadt ein, mitsamt Hubschrauber, aber ohne Erfolg. Früh kamen erste Gerüchte auf – vor allem die Vermutung, dass die Attacke mit dem gewaltsamen Konflikt zwischen den türkisch geprägten Osmanen und den kurdischen Bahoz zusammenhängt, der nicht nur in Stuttgart, sondern auch in Ludwigsburg teils auf offener Straße ausgetragen wurde. Wenige Tage zuvor hatten Bahoz-Anhänger in der Barockstadt das Auto eines Türken angezündet.

War es eine Machtdemonstration?

Den Osmanen wird vor dem Oberlandesgericht eine Vielzahl von Straftaten zur Last gelegt: Versuchter Mord und Totschlag, gefährliche Körperverletzung, räuberische Erpressung, Freiheitsberaubung, Verstöße gegen das Waffengesetz und das Betäubungsmittelgesetz. Die Anklage ist sich sicher, dass die Gruppierung auch hinter dem Gewaltexzess vom 21. November 2016 steckt. „Es ging um eine Machtdemonstration“, sagte der Staatsanwaltschaft beim Prozessauftakt im März. Die Männer seien durch die Straßen gezogen, um Bahoz-Anhänger zu verprügeln.

Die Schwierigkeit wird sein, den Angeklagten eine konkrete Tatbeteiligung nachzuweisen. Laut den drei Augenzeuginnen waren die Angreifer nicht zu erkennen. Einer soll aber laut das Wort Osmania gerufen, ein anderer das Opfer als „scheiß Kurden“ verhöhnt haben. Das Problem: Der Mann ist zwar tatsächlich Kurde, hat aber gegenüber der Polizei keine Angaben gemacht und äußerte sich auch am Donnerstag nur sehr zurückhaltend. „Ich habe den Mob gesehen, dann war es schon zu spät.“ Wegen der Schläge gegen den Kopf sei seine Erinnerung verschwommen. Warum die Horde ausgerechnet auf ihn losgegangen sei, könne er sich nicht erklären. „Ich war wohl einfach zur falschen Zeit am falschen Ort – vielleicht, weil ich Kurde bin.“ Wie die Täter das denn hätten erkennen können, fragte der Richter. „Weiß ich nicht.“ Dass er Mitglied bei Bahoz sei, wies der Mann zurück. „Ich gehöre keiner Gruppierung an.“

Der Prozess wird am kommenden Dienstag fortgesetzt und wird voraussichtlich noch bis weit ins kommende Jahr hinein andauern.