Dirk Nowitzki greift in der US-Liga nach dem Titel. Doch dazu müssen er und sein Team eine Niederlage aus der Vergangenheit verkraften.

New York - Natürlich ist Leistungssport niemals "reine Kopfsache", wie die Gurus des mentalen Trainings es gerne predigen, natürlich kann auch die beste Konzentration gegen eine stärkere Physis und überlegene Fertigkeiten nur selten etwas ausrichten. Aber es gibt dennoch Momente im Sport, in denen das Können der Kontrahenten annähernd gleich ist und die Psyche über Sieg oder Niederlage entscheiden muss.

 

Ein solcher Augenblick kam am vergangenen Montag während der Endphase des vierten Spiels zwischen den Oklahoma Thunder und den Dallas Mavericks in der Halbfinalserie um die US-Basketball-Meisterschaft. Es war das Entscheidungsspiel dieser Serie, auch wenn dem Gewinner noch mindestens ein Sieg fehlen würde, um ins Finale vorzudringen: Dallas lag mit zwei zu eins Spielen in Führung, die Partie fand in Oklahoma City statt. Fünf Minuten vor dem Abpfiff lagen die Gastgeber mit 15 Punkten vorn.

"Wir müssen uns dieses Ding holen"

Es wäre verführerisch für Dallas gewesen, sich in die Niederlage zu fügen, das Spiel aufzugeben und sich auf eine Verlängerung der Serie um mindestens zwei Spiele einzulassen. Doch dann meldete Dirk Nowitzki, der Kapitän der Mavericks, eine Auszeit an, holte seine Jungs zusammen und bläute ihnen ein: "Hört zu, Jungs. Das hier ist unser Spiel, das ist unser Moment. Wir müssen uns dieses Ding holen."

Es war kein leeres Motivationsblabla, das der gebürtige Würzburger da von sich gab. Die Mavericks holten in den folgenden Minuten 17 Punkte, 12 davon schoss Nowitzki selbst. Nur Sekunden vor Abpfiff versenkte er mit eisernen Nerven zwei Freiwürfe im Netz, um das Unentschieden und die Verlängerung zu erzwingen, in der Dallas schließlich mit 112 zu 105 gewann. Am Mittwochabend in Dallas brachten sie die Arbeit dann zu Ende und gaben Oklahoma mit einem 100 zu 96 Sieg den Rest.

Nowitzkis Rolle in der NBA

So agiert im Mannschaftssport ein echter Leader. Nowitzki spielt seine dreizehnte Saison in der NBA, der härtesten und stärksten Basketball-Liga der Welt. Er füllt in diesem Jahr diese Rolle voll und ganz aus. Er nimmt im entscheidenden Moment entschlossen das Heft in die Hand und dreht, wenn nötig, eine Partie alleine um.

Nowitzki ist mit 32 Jahren zur Führungspersönlichkeit gereift. Vor allem deshalb traut man dem einstigen "German Wunderkind" zu, mit den Mavericks endlich den Gipfel seines Sports zu erklimmen und den so lange ersehnten Titel zu holen.

Zum ganz großen Wurf hat es nicht gereicht

Seit 1999, als Nowitzki 21 Jahre jung war und im zweiten Jahr bei Dallas in der NBA spielte, jagt er diesem Traum nach. Damals übernimmt der visionäre Internetmilliardär Mark Cuban den Club der Ölmetropole und beginnt, um Nowitzki und die beiden ebenso jungen und ebenso talentierten Spieler Steve Nash und Michael Finley eine Spitzentruppe aufzubauen.

Doch zum ganz großen Wurf hat es bis heute nicht gereicht und viele glauben, dass dies an Nowitzkis fehlenden Führungsqualitäten lag. An seinem Talent hat hingegen nie jemand gezweifelt. Mit 18 Jahren wird Nowitzki, der damals in der zweiten Bundesliga für DJK Würzburg aufläuft, zu einem Sichtungsturnier in die USA eingeladen und spielt dort gegen NBA-Legenden wie Charles Barkley und Scottie Pippen. Barkley, einer der ganz Großen seiner Zunft, sagte danach: "Der Junge ist ein Genie! Wenn er in der NBA spielen möchte, dann soll er mich anrufen."

Der Franchise-Player

Ein Jahr später bekommt Nowitzki einen Vertrag bei Dallas und etabliert sich nach einem etwas holprigen Start rasch als einer der Besten der Liga. Bis zum Jahr 2004 ist er das, was man in den USA einen Franchise-Player bezeichnet - der eine Spieler, um den sich bei einem Profiteam alles dreht, der unverzichtbar ist.

Mit dem überragend begabten Nowitzki, der zudem mit preußischer Disziplin unermüdlich an seinen Schwächen feilt und Jahr für Jahr stärker wird, florieren die Mavericks, die einst reines Kanonenfutter für die Top Teams aus Chicago, Los Angeles, San Antonio und Detroit waren. Sie werden Stammgast in den Play-offs, jenem Meisterschaftsturnier nach der regulären Saison, bei dem im K.o.-Verfahren unter den besten Mannschaften der Champion ermittelt wird.

Mavericks treffen auf ernsten Widerstand

Im Jahr 2006 stoßen Nowitzkis Mavericks jedoch an ihre Grenzen. Sie waren in der normalen Ligaspielzeit zwischen September und März klar die beste Mannschaft und heimsten phänomenale 60 Siege ein. Nowitzki spielte die beste Saison seiner Laufbahn. In den Play-offs marschierten sie souverän bis ins Finale und gewannen dort gegen Miami auch deutlich die beiden ersten Spiele.

Alles sah so aus, als ob die Mavericks die erste Meisterschaft ihrer Clubgeschichte gewinnen. Doch dann treffen sie auf ernsten Widerstand.

Der beste europäische Spieler

Der Franchise-Player der Miami Heat, Dwayne Wade, wächst über sich hinaus und legt eine überirdische Partie nach der anderen hin. Und Nowitzki erstarrt mit seinen Mavericks wie ein Kaninchen im Angesicht einer Klapperschlange.

So bleibt Nowitzki bis heute der ewige "beste europäische Spieler" - im US-Basketball noch immer eine Ehre eher minderen Kalibers. Der Einzug ins Pantheon des Basketballs hingegen, die Nennung seines Namens in einem Atemzug mit Barkley, Magic Johnson, Larry Bird und vielleicht sogar Michael Jordan, ist ihm verwehrt. Stattdessen ist er der Gigant, der im entscheidenden Moment in sich zusammensank, eine Art teutonischer Zyklop, von einem listigen Helden gefällt.

Öffentlichkeit weiß wenig mit ihme anzufangen

Diese Erfahrung war traumatisch für Nowitzki. Noch im Jahr 2010 sagte er in einem Interview, dass er ständig an 2006 denke. Und man merkte in den Folgejahren immer wieder, dass ihm und den Mavericks die besagte Finalserie in den Knochen steckte. Jahr für Jahr spielten sie eine starke reguläre Saison. Als mit dem Frühling jedoch die Play-off-Zeit kam, tauchten die alten Dämonen wieder auf. Nur einmal, 2009, kamen sie über die erste Runde hinaus. 2007, nachdem Nowitzki zum MVP - zum wertvollsten Spieler der Saison - gewählt wurde, wurden sie sogar von den an letzter Stelle gesetzten Golden State Warriors düpiert.

Die amerikanische Öffentlichkeit wusste immer weniger, was sie mit Nowitzki anfangen soll. Die Debatten, ob er denn nun ein ganz Großer sei oder nicht, wollten nicht abreißen. "Man könnte einen eigenen Fernsehsender mit diesen Dirk-Dokumentationen bestreiten", spottete das "Wall Street Journal". "Es scheint so, als würden Basketballfans lieber über sein Können diskutieren als ihm zuzuschauen."

Die Debatte um den Basketballer

Tenor der Debatten: Nowitzki sei nicht hart, nicht tough genug. Der Deutsche versucht erst gar nicht, diesen Vorwurf zu zerstreuen. "Das ist meine Persönlichkeit. Ich bin kein Typ, der sich auf die Brust trommelt. Ich muss nicht jedes Mal mit Gewalt durch die Verteidigung brechen, wenn ich auch schießen kann."

Seit der Ära von Michael Jordan in den 90er Jahren sind die USA an einen bestimmten Typus von Franchise-Playern gewöhnt. Es sind Leute wie Kobe Bryant oder LeBron James, deren Ego genauso grenzenlos ist wie ihr Können. Leute, die immer lieber selbst schießen als den Ball abzugeben und für die ein Sieg ihrer Mannschaft weniger wichtig ist als dass sie brillant ausgesehen haben.

Nowitzki spielt, damit sein Team gewinnt

Das ist nicht Nowitzkis Sache, nicht zuletzt auch aus kulturellen Gründen. Nowitzki hat in Deutschland Basketball als echten Mannschaftssport gelernt. Er hat auf allen möglichen Positionen gespielt und ist deshalb so variabel einsetzbar wie sonst kein anderer Basketballer. Nowitzki spielt, damit sein Team gewinnt. Das kann bedeuten, dass er nur Pässe spielt, aber auch, dass er wie jüngst im ersten Spiel gegen Oklahoma spektakuläre 48 Punkte wirft.

Nicht so seine US-Kollegen. Die meisten von ihnen kommen aus dem Ghetto. Sie haben das Spiel auf der Straße gelernt und es ging ihnen immer darum, aufzufallen. Nur so hatten sie eine Chance, von Scouts bemerkt zu werden und einen Profivertrag zu erhalten.

Zurück bei Dallas

Am deutlichsten wurden diese Differenzen letztes Jahr. Der Vertrag von LeBron James, der in der Nike-Werbung als "der Auserwählte" bezeichnet wird, bei seinem Verein Cleveland lief aus. James pokerte bis zur letzten Sekunde und verkündete dann in einer eigens inszenierten TV-Show, genannt "The Decision", dass er sich in Miami Dwayne Wade und dem hochgelobten Chris Bosch anschließen werde.

Nowitzki hingegen, dessen Kontrakt ebenfalls endete, blieb dort, wo er seit 1998 spielt - in Dallas. Man hatte dort erst vor anderthalb Jahren die Mannschaft umgebaut und die neue Formation begann sich einzuspielen. Nowitzki wollte dies nicht zerstören. Und vor allen Dingen wollte er eines: den Titel gemeinsam mit Mark Cuban holen, der ihn geholt und immer an ihn geglaubt hatte. Dafür nahm Nowitzki sogar eine Gehaltskürzung in Kauf.

Ein Clash der Kulturen

Jetzt steht vermutlich Miami mit LeBron James und Dwayne Wade Nowitzkis Mavericks im Endspiel gegenüber. Es wird nicht nur eine pikante Revanche, sondern auch ein Clash der Kulturen - eine zusammengekaufte Supertruppe gegen die gewachsene Gemeinschaft loyaler Veteranen, die etwas gutzumachen haben.

Nowitzki glaubt, dass seine Philosophie wettbewerbsfähig ist. Er war immer davon überzeugt, schon vor den Play-offs, als niemand ihm eine Chance gab und alle dachten, die Mavericks flögen doch wieder früh raus. "Ich sehe in diesem Jahr keinen klaren Favoriten", sagte er selbstbewusst, schon nachdem Dallas in der ersten Runde Portland besiegt hatte.

Nowitzki ist tough geworden

Nowitzki wusste damals schon, was sich dem Publikum erst jetzt so langsam erschließt: Der Würzburger hat sein Trauma von 2006 überwunden. Noch immer ist die Führungsrolle nicht natürlich für ihn. Doch er hat sie sich antrainiert, so, wie er in all den Jahren im Sommer in einer Turnhalle in Franken seinen Wurf oder sein Verteidigungsspiel geübt hat, während seine Kollegen am Strand lagen und Margaritas schlürften.

Nowitzki ist tough geworden. Ein Egomane ist er deshalb nicht. "Wir sind eine Gruppe von erfahrenen Spielern, die sich zusammengefunden haben, weil wir ein gemeinsames Ziel haben", kommentiert er am Donnerstag den Sieg seiner Mavericks. Die Betonung lag dabei wieder auf der Gruppe und nicht darauf, dass er nun persönlich sein großes Ziel in Reichweite hat.

Doch die Bescheidenheit täuscht nicht darüber hinweg, dass ein Sieg über Miami vor allem ein Triumph für Nowitzki wäre. Und man würde es ihm nicht übel nehmen, wenn er sich dann auf die Brust trommelt.