Die Röhren unter dem Schönbuch bei Herrenberg werden zu einem der modernsten Abschnitte der Autobahn 81. Wenn es gut läuft, merkt das kein Mensch. Ein Baustellenbesuch.
Herrenberg - Den Kollegen ist es ganz schön wichtig, dass es Roger Fischinger gutgeht. Einen schützenden Unterstand aus Holz nur für ihn haben sie gezimmert. Die Fenster haben die Form von Herzen, und an der Fassade baumelt eine Lichterkette, die freundlich leuchtet. Roger Fischinger sitzt auf einem Stuhl, den man nicht sieht. Er ist verhüllt von einer Thermodecke, die er sich um den Körper bauchabwärts gewickelt hat. Deshalb sieht man auch den Heizlüfter nicht, der unter dem Stuhl warme Luft an seine Füße bläst. Nur kurz aufwärmen, dann muss Roger Fischinger weitermarschieren. Durch die Kälte. Immer hellwach und superaufmerksam. Falls sich an seinem Arbeitsplatz ein Unglück anbahnt, muss er, der Wächter, es kommen sehen. Und der sein, der Alarm schlägt und Hilfe holt.
Sein Arbeitsplatz ist der Schönbuchtunnel der A 81 bei Herrenberg. Seit zwei Jahren wird das fast 40 Jahre alte Bauwerk saniert und modernisiert. Ende März sollten die Arbeiten beendet sein. Aber nun dauern sie doch noch bis Ende Mai. Und zwei Millionen Euro mehr als geplant werden sie auch kosten. Wer sich auskennt mit öffentlichen Bauten, weiß, dass das fast nichts ist. Wie vieles von dem, was während der Bauarbeiten ungeplant geschah, fast nichts war. Die eigentliche Nachricht ist, dass nichts Bemerkenswerteres passiert ist. Also kein schlimmer Unfall in den Jahrzehnten vor den Arbeiten. Und – toi, toi, toi – keiner, während sie im Tunnel in vollem Gange sind. Aber wer durch einen Tunnel fährt, hat dafür natürlich keinen Blick. Hui rein, hui wieder raus, schnell, schnell ans Ziel. Nicht mal Roger Fischinger in seinem süßen Unterstand fällt beim Durchrauschen auf. Die Aufschrift an der Wand erst recht nicht: Roger’s Castle.
Auch mit einer extrem blühenden Fantasie ließe sich das Rauschen der brausenden Fahrzeuge nicht in das Rauschen einer tosenden Meeresbrandung umdeuten. Nirgends auf der Welt gibt es ein Meer, das scheppert, röhrt, quietscht oder hupt. An manchen Tagen donnern 65 000 Fahrzeuge durch die Röhre. Und dann noch das Klappern des Kippers, der heißen Teer von seiner Ladefläche schüttelt. Das Kratzen der Baggerschaufel, die die Fläche plan zieht. Und das Ächzen des Rüttlers, der die dampfende Masse zu einer glatten Bahn stampft. Und das Fauchen der Höchstdruckstrahler beim Abfressen der Betonwände. 95 Dezibel Krach hat die Berufsgenossenschaft in den Röhren gemessen. Da helfen selbst die für jedes Arbeiterohr geformten Ohrenschützer nur bedingt. „Das Arbeitsklima ist nicht so gut“, wortwitzelt Rolf Huber, der das Projekt leitet. Immerhin ist es mit dem Gestank nicht so schlimm. Er verzieht sich relativ flott. Mit demselben Luftzug allerdings, der an besonders kalten Tagen die Temperatur in der 626 Meter langen Röhre auf frostige Minusgrade drückt.
Eine Röhre, die beinahe einladend wirkt
Wenn die Bauarbeiter ihre Baustelle Ende Mai räumen, hinterlassen sie einen Tunnel, der beinahe einladend wirkt. Man kann das in der Weströhre sehen, die bereits vollendet ist. In der Weströhre fahren die Autos gen Singen. Ihre Wände strahlen in hellstem Weiß, alle 25 Meter springt ein leuchtend grüner Quader hervor, der die kürzeste Fluchtroute weist, und aus dem nun fast ebenerdigen und damit behindertengerechten Pfad für alle Notfälle blinken wegweisende Leuchten. Die Fahrbahn ist mit einer neuen Asphaltschicht versehen worden. An der Decke hängen Ventilatoren, groß wie die Turbinen eines Airbusses 380. Sie sollen enorm schnell Rauch aus der Röhre drücken. Unter dem Boden verbirgt sich ein voluminöser Ablauf, der Öl- oder Benzinlachen daran hindern wird, sich auszubreiten. Und der Verbindungsstollen zwischen den beiden Röhren ist mit stabilen Türen versehen, damit sich ein Feuer nicht ausbreiten kann.
Bis zu 40 Mann sind an Großkampftagen auf der Baustelle im Einsatz. 200 Tonnen Spritzbeton und 30 Tonnen Feinspachtel werden sie am Ende verschafft haben, 7500 Tonnen Asphalt im Tunnel verlegt und fast doppelt so viel davor. Um nur ein paar Massen zu nennen. Von den Massen an Autos und Lastern neben ihnen trennt sie nur eine schmale Mauer. „Verrückt, echt verrückt“, sagt Rolf Huber. Das versteht man allerdings erst nach dem Verlassen der röhrenden Oströhre.
Rolf Huber, 53, ist Bauingenieur und arbeitet für das Stuttgarter Regierungspräsidium. Für die Behörde hat er schon ungezählte Kilometer Straßen und Brücken instand gesetzt, aufgemotzt oder neu gebaut. Zuletzt war er für den sechsspurigen Ausbau der Autobahn zwischen Böblingen-Hulb und Gärtringen zuständig. Ein Ponyhof, verglichen mit der Arbeit im Tunnel. Das muss man zumindest glauben, wenn man Rolf Huber von seinem aktuellen Projekt erzählen hört. Diese Technik. Diese Zusammenhänge. Diese Abhängigkeiten. „Unvorstellbar“, sagt Rolf Huber. Und so, wie er es sagt, klingt es, als wäre es manchmal auch zum Verzweifeln gewesen.
Acht Millionen Euro teure Technik
Mal ein paar Beispiele: zieht ein Autofahrer im Tunnel einen der 20 Feuerlöscher aus seiner Verankerung, wird die Einfahrt gesperrt, der Tunnel taghell erleuchtet und die Feuerwehr alarmiert. Alles rasend schnell, vollelektrisch. Oder: öffnet einer die Tür zu einer der 14 Notrufnischen, springt ebenfalls die Vollbeleuchtung an und das Tempolimit auf 60 Kilometer pro Stunde. Oder: fällt der Wasserstand im Spezial-Hochbehälter ab, wird umgehend die Autobahnmeisterei informiert. Spinnt der Druckmesser: ebenfalls. 6000 Datenpunkte sind, verhüllt von 25 000 Meter Kabel, in den beiden Röhren verborgen. 32 Kameras sammeln Bilder, die auf Monitore an vier Standorten übertragen werden. Muss man alles bedenken, berechnen, programmieren. Und das Beste sei, sagt Huber: „Das sieht kein Mensch.“
Noch besser allerdings wäre: die acht Millionen Euro teure Technik, die in einem unscheinbaren Gebäude abseits der Autobahn zusammenläuft, bräuchte kein Mensch. Wie bisher, als es nichts von den Dingen gab, die verhindern sollen, dass aus einem Unfall eine Katastrophe wird. Nicht einmal eine Leitung für Löschwasser gab es mehr. War irgendwann kaputtgegangen, und keiner hat’s bemerkt. Wie ja auch lange niemand wahrhaben wollte, dass es mit dem Bauen von Straßen, Brücken und Tunnels allein nicht getan ist. Auf der Liste der 242 Tunnels im Land, die dem Bund gehören, stand der Schönbuchtunnel ganz hinten. Zusammen mit dem (nun ebenfalls sanierten) Lämmerbuckeltunnel bei Wiesensteig. Beide rangierten in der Zustandsklasse „ungenügend“. Wäre ein Tanklaster, der 2005 auf einen Schwertransporter prallte, nicht ohne Ladung unterwegs gewesen – der Schönbuchtunnel hätte zu einer tödlichen Feuerfalle werden können. Wie 1999 der Montblanc-Tunnel, als ein Lastwagen in Flammen aufging. Das Inferno, in dem 39 Menschen starben, war schließlich der Auslöser für das Nachrüstungsprogramm in deutschen Tunnels, das nun auch auf der A 81 bei Herrenberg angekommen ist. 24 Millionen Euro hatte der Bund veranschlagt, es werden 26 Millionen werden. Auch darum, weil außer dem neuen Löschwassersystem erst mal ein provisorisches errichtet werden musste. Nebenbei: der Neupreis lag bei 40 Millionen Mark.
Nach einem Kurzschluss geht gar nichts mehr
Im November 2014 stellt Karl Rombach, der für die CDU im Landtag sitzt, eine Kleine Anfrage an das Verkehrsministerium. Unter anderem will der Politiker wissen, ob dem Ministerium angesichts der vielen Baustellen auf der A 81 – außer der im Tunnel gibt es zu diesem Zeitpunkt noch drei weitere – Beschwerden von Bürgern bekannt seien. Die Antwort dreieinhalb Wochen später lautet: „Nein. Insbesondere bei der Baustelle Schönbuchtunnel ist die Resonanz der Öffentlichkeit sehr positiv.“
Sechs Tage später, am 28. Dezember, wäre diese beruhigende Antwort nicht mehr möglich gewesen. Wegen eines Kurzschlusses fällt die gesamte Tunneltechnik aus, und in beiden Röhren geht einen Tag lang nichts mehr. Elf Tage später lösen die heißen Schwaden eines Druckstrahlers unter einem Brandmeldekabel einen Feueralarm aus – wieder wird der Tunnel gesperrt. Wenige Wochen später gibt es eine weitere Sperrung wegen eines Kurzschlusses. Und nicht zu vergessen der falsche Brandalarm im November, den eine Staubwolke vor einem Sichttrübemessgerät ausgelöst hat.
So erzeugte der Schönbuchtunnel zwar nicht gerade die proklamierte positive Resonanz, aber immerhin eine bundesweite. Speziell in Hamburg wurde die Öffentlichkeit besonders gut über die Baustelle im wilden Süden informiert: Wegen des Megastaus im Dezember 2014 kamen die Freezers viel zu spät zu ihrem Eishockeyspiel in Villingen-Schwenningen.
Schon klar, dass solche Pannen auch für Rolf Huber kein Vergnügen sind. Erst der Riesenschreck, dann die hektische Lösungssuche und dann das lästige Rechtfertigen. Aber wie sagt der Projektleiter auch: „Lieber ein Fehlalarm und das Ding steht, als kein Alarm und das Ding brennt.“
Grubenlampen für die Arbeiter
Als der Tunnel unter den Wäldern des Schönbuchs ausgehöhlt wurde, mussten die Bauarbeiter Grubenlampen tragen. Von den Wänden tropfte Wasser, auf dem Boden häufte sich der Schlamm zentimeterhoch, und die monströsen Baumaschinen klangen in dem Stollen 20 Meter unter der Erdoberfläche wie Düsenjäger. 1972 ist das gewesen. Die Arbeiten unter Tage waren auch deshalb unheimlich aufregend, weil das Gestein so mergelig und gipsig-weich war. Während der Bauarbeiten stürzte sogar spektakulär das Südportal der Oströhre ein. Aber die Ingenieurkunst war stärker als die Natur: Im Sommer 1978 wurde der Tunnel eröffnet. Rechtzeitig zur Haupturlaubszeit konnte der Tunnel provisorisch einspurig für den Verkehr freigegeben werden – und damit auch der neue Abschnitt der A 81 von Gärtringen bis Herrenberg. In der Zeitung stand kurz vor der Eröffnung zu lesen: „Zu den imponierendsten Abschnitten der Autobahn von Stuttgart zum westlichen Bodensee zählt zweifellos der Schönbuchtunnel bei Herrenberg.“
Mitte Mai sollen die aktuellen Bauarbeiten beendet sein. Dann wird die neue Technik mit zig Tests auf die Probe gestellt. „Zur Attestierung der Funktionsfähigkeit sämtlicher sicherheitstechnischer Einrichtungen“, wie das bürokratisch korrekt heißt. Wenn alles klappt, verfügen Ende Mai beide Röhren wieder über jeweils zwei Fahrbahnen, und die Fahrzeuge können ohne Baustellentempolimit durchbrettern wie früher. Hui rein, hui raus, schnell, schnell. Die Wände strahlen hell, die Hinweisschilder leuchten grün. Roger’s Castle wird entsorgt sein. Ob jemand darauf achtet?