Bauernhofkatastrophe von Erligheim Happy End für eine arme Sau

Der zweijährigen Mary Lou geht es jetzt gut. Foto: /Conny Kurz

Vor einem Jahr verendeten 17 Tiere auf einem Bauernhof in Erligheim, weil der Bauer sie nicht mehr versorgte. Ein Schwein überlebte, weil es den Weg zur Futterkammer gefunden hatte. Wie geht es Mary Lou heute?

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Jeder Tag beginnt mit einem fordernden Grunzen. Jeden Morgen macht Mary Lou so auf sich aufmerksam. Dann gehen über 200 Kilo Schwein erwartungsvoll in die Vollen. Hab’ Hunger, heißt das. Oder besser: Appetit. Oder einfach nur: Ich wär dann mal so weit, du auch? Je nach Tagesform.

 

Von wegen dummes Schwein. Mehr als 7000 unterschiedliche Laute hat die Berliner Humboldt-Universität gesammelt und erforscht – und damit auch wissenschaftlich belegt, dass Schweine ihre Stimme modulieren und so ihren Gefühlszustand kundtun. Von zufrieden über fürsorglich bis panisch. All diese Ausdrucksmöglichkeiten haben Schweine ebenso wie Menschen in ihrem Gefühls- und Stimmrepertoire. Und morgens gibt sich Mary Lou eben einem erwartungsvollen Schnauben hin.

Petra Supica, 61, versteht diese Sprache intuitiv. Zusammen mit ihrem Mann Werner betreibt sie seit 2019 den Lebenshof Hohenwart, gelegen in Fuchstal im Landkreis Landsberg am Lech. Aus der Idee, auf dem Land einen Bauerhof zu kaufen und dort zu leben, wurde mit der Gnadenhof-Gründung eine jede Stunde des Tages ausfüllende und erfüllende Lebensaufgabe. Um das alles jenseits von Spenden und Patenschaften finanzieren zu können, betreibt die Hofherrin weiter ihre Hausverwaltungsfirma bei München und schießt jeden Monat Geld zu.

Die Tragödie vor einem Jahr

Auf dem Hof an der B 17 leben Hähne, Ziegen, ein paar Minischweine und 42 Rinder – und noch einmal an die 100 auf Pensionsstellen. Längst erwachsene Kälbchen, die wegen einer Behinderung aussortiert wurden oder blind sind. Abgegeben oder freigekauft. Alle Tier haben hier einen Namen und eine Geschichte, die Petra Supica und ihr Mann erzählen können. Max, der Ochse, kommt vom Horizont gelaufen, wenn der Hausherr seinen Namen ruft. Er hat den Ochsen, der in einem dunklen Verschlag an der Kette gehalten wurde, aufgepäppelt. Warum der Mann, der von einem Bauernhof kommt und dann sein Geld anders verdient hat, jetzt wieder mit Rindern und Schweinen lebt? Seine Antwort ist einfach: „Wenn man das Elend sieht . . .“ Jetzt sitzt er regelmäßig bei Kühen und Schweinen, um sie zu streicheln und zu liebkosen. Mary Lou kommentiert es immer mit wohligen Schnaufen, wenn er ihr die Pobacken massiert.

Auch sie hat eine Geschichte. Als sie noch ein namenloses Jungschwein war, stand sie im Stall eines Erligheimer Bauerhofs, der traurige Berühmtheit erlangte. Auf diesem Hof spielte sich vor ziemlich genau einem Jahr eine Tragödie ab. Hört man heute Mary Lous laute Stimme, fragt man sich, warum niemand ihr verzweifeltes Schreien und das der anderen Tiere nach Nahrung gehört hat? Warum niemand rechtzeitig eingegriffen und den Tieren ihr Leid erspart hat? Der Landwirt befand sich damals, so das Landratsamt, in einem psychischen Ausnahmezustand. Wie es scheint, war ihm die Arbeit auf seinem Hof über den Kopf gewachsen. Irgendwann ging er offenbar nicht mehr in den Stall und hörte auf, seine Tiere zu versorgen.

Am 22. April 2022 meldete das Landratsamt Ludwigsburg, auf dem Bauernhof seien 17 verendete Tiere gefunden worden: fünf Schweine, neun Rinder und drei Hühner – verhungert und verdurstet. Bilder, die von der Tierrechtsorganisation Peta kurz darauf veröffentlicht wurden, zeigten ein nur schwer erträgliches Szenario. Auf den Fotos sind verendete Tiere zu sehen, die in Kot und Dreck liegen. Ein einziges Schwein überlebte wie durch ein Wunder. Es hatte sich in der höchsten Not seinen Weg zum Futter gesucht, musste dafür über die Kadaver seiner toten Artgenossen klettern. Im Flur, der zur Futterkammer führte, fand man die Sau – und brachte sie ins Tierheim Ludwigsburg.

Als das hochbeinige und dünne Schwein vom Transporter stieg, lief es der Tierheimleiterin Ursel Gericke in die Arme. Die fragte: „Und wie heißt denn du?“ – und will die deutliche Antwort „Mary Lou“ vernommen haben. So erzählt sie es jedenfalls. Aus dem namenlosen Unglücksschwein mit dem enormen Überlebenswillen wurde eine glückliche Sau namens Mary Lou.

Nach einer kurzen Zeit des Fremdelns stand sie mit beiden Vorderbeinen auf dem Tor ihrer Stallabgrenzung und grunzte neugierig in den Raum. Als sie aus dem Stall gelassen wurde und auf den Hof des Tierheim lief, begann sie dort mit Hunden und Menschen zu spielen. Auch mit dem Berner-Sennenhund-Welpen, der in Gerickes Rudel lebt. Mary Lou ahmte sogar dessen Bellen nach. „Wie einsam muss sie in den Tagen gewesen sein“, sagt Gericke, „als die anderen Tiere um sie herum elendig verendeten.“

Neue Lebensgemeinschaft mit Irma

Nie mehr sollte Mary Lou wieder einsam sein. So ihr Versprechen an sich selbst, vor allem aber an Mary Lou. Und so schlossen Irma, ein als Ferkel ausgesetztes Fundschwein aus dem Tierheim Heilbronn, und Mary Lou eine erst mal nicht ganz freiwillige Lebensgemeinschaft. Denn da Schweine nicht zur Kernklientel der Tierheime gehören, war schnell klar: Die beiden gleichaltrigen Sauen sollten zusammenkommen, um sich gegenseitig Gesellschaft zu leisten. Und auch, weil es extrem schwierig ist, ein einzelnes Schwein in eine bereits vorhandene Gruppe zu integrieren. Der Suchlauf nach einem Platz auf einem Gnadenhof begann – unterstützt von Peta. Die Wahl fiel auf den Hof in Fuchstal. Am 24. Juli 2022 sind Mary Lou und Irma dort angekommen. Mary Lou war von Anfang an forsch, Irma ein bisschen zurückhaltender und vorsichtiger.

Auch Schweine haben Charakter. So frisst Mary Lou, was sie nur bekommen kann. Sofort und leidenschaftlich. Während Irma gerne sammelt, ihre Beute in der Schnauze zusammenträgt, um sie dann in einer großen Portion zu verspeisen. Wenn Mary Lou dann ein Stück Apfel oder Brot, das Irma verloren hat, stibitzen will, gibt es schon mal Zoff unter den Schweinedamen. Dennoch muss man genau hinschauen, um die beiden voneinander unterscheiden zu können. Irma ist etwas zarter, falls man das bei ausgewachsenen zweijährigen Sauen überhaupt sagen kann. Was aber für beide Borstenviecher gilt: Fettlebe und ein artgerechtes Dasein sind nun der einzige Sinn ihres Aufenthaltes auf dem Gnadenhof. Es vergeht kein Tag mehr, an dem die beiden nicht eine riesige Portion Futter bekommen. Drei große Eimer mit gekochten Kartoffeln und Gemüse, eine Riesenportion eingeweichte Erbsen, Heu und Stroh und Leckereien, die eine Bäckerei regelmäßig als Zwischensnack vorbeibringt.

Wenn es regnet oder die Nacht anbricht, trotten Mary Lou und Irma von ihrem Freilauf über eine hölzerne Rampe in einen offenen Schweinewagen mit Stroh auf dem Boden. Darauf liegen sie dann Seite an Seite und kuscheln sich aneinander. Unter guten Bedingungen können Schweine bis zu 15 Jahre alt werden. Ein Alter, von dem ein Mastschwein nur träumen kann. Doch für Mary Lou und Irma gilt jetzt: nie mehr Hunger, kein drohender Transport ins Schlachthaus, nie mehr einsam und ein langes Leben. Happy End für zwei ehemals arme Schweine.

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