Die Nazi-Vergangenheit der Festspiele ist deren großer Schmerzpunkt
Fertig, aus. Schon gehört der Skandal zu jenen, die sich so regelmäßig vor Beginn der Bayreuther Festspiele ereignen, dass man sie glatt für eine PR-Kampagne halten könnte. Die Themen sind dafür aber oft zu ernst. Manchmal streiten nur die Nachkommen Wagners, aber mal geht es auch um das Hakenkreuz-Tattoo eines Sängers, und kurz vor dem traditionellen Prominenten-Défilé zur Festspieleröffnung wurde bekannt, dass der Tenor Klaus Florian Vogt in der Generalprobe von Wagners „Lohengrin“ bei dem Satz „Seht da den Herzog von Brabant, zum Schützer sei er euch ernannt“ aus dem Schützer singend einen Führer gemacht hatte. Absicht oder Verbalunfall? Tatsache ist: Das Wort Führer kommt in Wagners Originaltext vor, es wird nur in neueren Ausgaben der Partitur ersetzt. Die Nazi-Vergangenheit der Festspiele, überhaupt die ideologische Anschlussfähigkeit von Richard Wagners Werk, ist der große Bayreuther Schmerzpunkt – immer noch und immer wieder.
Aber auch Vogts Ausrutscher ist mittlerweile vergessen. Jetzt diskutiert man lieber darüber, wie gut er den Siegmund gesungen hat. Die ganz Hartgesottenen unter den Bayreuth-Fans ziehen dazu in den jeweils einstündigen Pausen zwischen den Akten Schuhe und Strümpfe aus. Krempeln die Hosenbeine hoch oder lupfen ihr Kleidchen. Schreiten in langer Phalanx im Storchenschritt durch das kalte Kneippbecken oberhalb des Festspielhauses und diskutieren dabei, wie der Regisseur dies oder jenes gemeint haben könnte, nein: gemeint haben muss.
In Bayreuth gibt es eherne Traditionen
Die Prozession im Wasser sieht ziemlich lustig aus. Sie belebt aber ungemein, denn die Akte in Wagners Musikdramen sind sehr lang. Die Stühle im Festspielhaus sind hart (was manche mit quietschbunten Gummikissen abmildern), pro Reihe nehmen gut 50 Menschen Platz (eine Panik darf hier nicht ausbrechen). Vor allem aber: Das Festspielhaus ist nicht klimatisiert. Bei hohen Außentemperaturen beginnt einem schon eine Viertelstunde nach der Schließung der Türen der Schweiß ins kleine Schwarze zu fließen. Vorausschauende Herren legen ihre Sakkos eh nur auf ihre Knie. Stünden sie auf, um sich zu entkleiden, müssten sie einen echten Shitstorm befürchten.
In Bayreuth geht es streng zu. Und es gibt eherne Traditionen. Die ehernste: Es wird ausschließlich Wagner gespielt, und auf dem Spielplan stehen jedes Jahr ab dem 25. Juli und bis zum 30. August nur die zehn Werke, die der Komponist selbst als festspieltauglich benannte.
Heute gibt es immer wieder Restkarten für die Festspiele
Über eine Aufweichung des zementierten Kanons wurde schon viel diskutiert. Tatsächlich haben die Traditionalisten ein gutes Argument auf ihrer Seite: Die Fixierung auf Wagner ist ein Markenzeichen des ältesten deutschen Festivals. Tatsache ist aber auch, dass die ehedem etwa siebenjährige Wartezeit bei einer Kartenbestellung schon lange Geschichte ist. Heute gibt es immer wieder Restkarten, und man kann sich sogar mit guten Aussichten in eine Online-Warteschlange einreihen. Heißt dies, dass der Mythos Bayreuth bröckelt? Unter Katharina Wagners Leitung hat eine Öffnung begonnen. Im Kern bleibt das Festival zwar, wie es seit seiner Gründung 1876 gewesen ist: eine Stätte der Wagner-Pflege und -Verehrung, manchmal auch des Wagner-Diskurses. Das Drumherum indes ist deutlich bunter geworden. So veranstaltete man jetzt zwei Open-Air-Konzerte mit dem Festspielorchester im Park, bei denen nicht nur Wagner-Szenen aufgeführt wurden, sondern auch etwa die Briefszene aus Tschaikowskys „Eugen Onegin“ sowie ein „Gebet für die Ukraine“ des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov.
„Musik verbindet und trennt nicht“, kommentierte dies auf der Bühne die Festspielleiterin Katharina Wagner selbst. Dann gab’s Bernstein, und der im Festspielhaus 2022 gleich dreifach beschäftigte Tenor Stephen Gould schmetterte neben Puccinis „E lucevan le stelle“ sogar Operette: „Dein ist mein ganzes Herz“.
Mit dem Picknickkorb im Open-Air-Konzert
Das Publikum hörte zu, picknickte auf dem gelb gewordenen Rasen und vergnügte sich. Für die Stadt kann das nur gut sein, denn der Umgang der Bayreuther mit dem Wagner-Publikum ist manchmal eher herb. Zwar werden die Preise in den Hotels zur Festspielzeit kräftig angehoben. Aber die Restaurants bringen es fertig, die hungrige Schar von täglich etwa 2000 Besucherinnen und Besuchern nach den längeren, also inklusive Pausen von 16 bis gegen 22 Uhr dauernden Opern Wagners eiskalt mit der Bemerkung abzuservieren, die Küche schließe halt immer um zehn.
Zum Trost gibt’s beim Teeladen unter dem Namen „Siegfrieds Drachenblut“ Früchtetee mit Blutorangengeschmack. Und beim Besuch von Wagners Wohnhaus Wahnfried kann man neben dem Grab Wagners und seines Hundes im angrenzenden neuen Wagner-Museum die schöne Ausstellung „Volkswagner“ besuchen. Dort gibt’s neben Historischem aus Film- und Musikgeschichte hübschen Bayreuth-Nippes: einen Wagnerkopf als Christbaumanhänger, einen Porzellan-Schwan, ja sogar eine FFP2-Maske der Marke Siegmund („mit extrem leichtem Atemwiderstand“). Und ein Werbeplakat für den schlüpfrigen Abenteuerfilm „Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen“ – mit Raimund Harmstorf, der eine Blondine in die Luft stemmt, und dem schönen Reim „Jung-Siegfried war ein toller Hecht, er macht’ es allen Damen recht“. Dem ist nichts hinzuzufügen.