Nicht nur die Rolling Stones, auch die Beach Boys werden fünfzig – und wie! In der Stuttgarter Schleyerhalle sind sie am Samstag durch fünfzig Hits gesurft und haben „Fun, Fun, Fun“ verbreitet.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Was ist schon normal? Und was gilt alles noch als normal? Das liegt bekanntlich im Auge des Betrachters, jeder misst dies mit eigenen Maßstäben, allenfalls herrscht ein gewisser Konsens, was sich noch im Rahmen befindet, was aus ihm fällt und was ihn vollends sprengt. Ein normales Popkonzert zum Beispiel besteht im Regelfall aus zwölf oder fünfzehn, vielleicht auch mal zwanzig, womöglich, wenn es ausufernd gerät, aus zwei Dutzend Songs. Es gibt sogar Künstler, die es so gut mit ihrem Publikum meinen, dass sie ihm üppige dreißig Lieder servieren – dies ist aber eher die Ausnahme. Was sich jedoch am Samstag in der mit neuntausend Zuschauern gefüllten Schleyerhalle zugetragen hat, haben auch lang gediente Konzertbesucher noch nicht erlebt. Denn das war alles andere als normal.

 

Exakt fünfzig Lieder haben die Beach Boys gespielt, als nach über drei Stunden das Hallenlicht das Publikum aus seinen Träumen reißt. Einen Song für jedes Jahr ihres Bestehens. Unfassbare fünfzig musikalische Grüße zur Feier des bemerkenswerten Jubiläums, das der Grund für die kalifornische Band war, sich noch einmal in der Gründungsformation zusammenzuraufen. Zu dieser Feier konnten die Beach Boys, auch dies ist unglaublich, sogar ihren Kopf Brian Wilson mit ins Boot holen, den Sturkopf, der sich bald ein Vierteljahrhundert lang nicht mit ihnen blicken ließ.

Eine Welttournee mit – abermals exakt fünfzig Konzerten spielen die einstigen Streithähne nun, und dass eines davon sie nach Stuttgart führt, ist die nächste Sensation. Es ist ihr erster Auftritt hierzulande seit mehr als zwanzig Jahren und der erste in dieser Besetzung überhaupt. Und sie haben, um mit den Unglaublichkeiten weiterzumachen, sogar ein neues Album eingespielt und vor zwei Monaten veröffentlicht. Ihr Gastspiel in der Schleyerhalle nutzen sie allerdings nicht, um es dem Publikum ausführlich vorzustellen: unter den fünfzig Nummern findet sich kurioserweise nur ein einziges Stück von diesem Album, der Titeltrack „That’s why God made the Radio“. Er kommt im Konzert als Song Nummer 35.

Unfassbar viele Hits – und alle werden gespielt

Den Auftakt bestreiten die Beach Boys vielmehr mit sechs nahtlos ineinander übergehenden Stücken. Zunächst erklingt „Do it again“, gleich darauf „Little Honda“, zuletzt „Surfin‘ Safari“ – drei Lieder also, die sich auf jeder Best-of-Compilation der Beach Boys finden. Die Songs knüpfen aneinander an, sie verschmelzen allerdings nicht zu einem Medley, was erfreulich prompt die Sorge entkräftet, es würde sich bei diesem Konzert um eine aus ein paar Hits zusammengeschusterte Nummernrevue handeln, bei der gealterte Stars noch einmal auf die Schnelle ein paar Dollars einsammeln wollen. Denn die Beach Boys nehmen sich alle Zeit der Welt. Und sie nutzen sie tatsächlich, um ausnahmslos alle ihre Hits zu spielen.

Staunend registriert man in den folgenden drei Stunden, wie unfassbar viele es sind. „Surfer Girl“, „Then I kissed her“ sowie vor der hochverdienten Pause nach 27 (!) Stücken „I get around“ bringen sie, danach unter anderem „Cotton Fields“, „California Dreaming“, „Sloop John B“ und „Good Vibrations“, ehe zum Abschied mit dem Vierklang „Surfin’ USA“, „Kokomo“, „Barbara Ann“ und „Fun, Fun, Fun“ das ertönt, was man – mit voller Berechtigung, weil der Begriff hier trifft – als Hitfeuerwerk bezeichnen darf. Auch so erklärt sich dieser überbordende Abend: die Herren brauchen einfach eine gewisse Spieldauer, um überhaupt alle ihre Glanzlichter unterzubringen. Eine Zugabe, auch das offenbart Stil und Klasse, gibt es nicht. Logisch, denn was hätte da denn auch noch kommen können.

Auf der Bühne stehen mehr oder weniger zwei Bands. Im Hintergrund eine sechsköpfige Backingline, die das rhythmische Fundament legt, ein paar Saxofonklänge in die Stücke tupft und den Herren in der ersten Reihe stimmlich, falls nötig, unter die Arme greift. Auch dies ist aber weit entfernt von Mauschelei, denn der Sänger Mike Love vermittelt dem Publikum ebenso charmant wie offenherzig, dass die Beach Boys bisweilen etwas vokale Unterstützung brauchen, um ihren mehrstimmigen Harmoniegesang noch so virtuos hinzubekommen, wie dies in den sechziger und siebziger Jahren der Fall war, als die kalifornischen Sonnyboys die Welt mit ihren vertonten Träumen von Sonne, Sand und nimmer endendem Frohsinn beglückten. Aber selbst die inhaltlich simplen Botschaften, diese eskapistisch verklärende Schönwettersicht auf die Zeitläufte, mag man ihnen in der Rückschau nicht ankreiden, zumal hinlänglich bekannt ist, dass auch die Beach Boys von Schicksalsschlägen nicht verschont blieben.

Brian Wilson ist immer noch der Kopf der Band

Von den Brüder Wilson, welche die Beach Boys 1961 mit aus der Taufe hoben, lebt nach dem Krebstod des Gitarristen Carl und dem tragischen Unfalltod des Schlagzeugers Dennis nur noch der Pianist Brian, der an einem weißen Stutzflügel in der vorderen Bühnenreihe der Schleyerhalle Platz genommen hat, neben sich die anderen beiden Mitgründer Mike Love und Alan Jardine sowie die langjährigen Weggefährten Bruce Johnston und David Lee Marks. Wilson ist unverkennbar zurück in die Rolle des Spiritus Rector der Beach Boys geschlüpft, er gibt – als Komponist der meisten Hits – die Melodielinien vor, setzt die pianistischen Akzente und stützt Love mit seinem Falsettgesang. Beispielhaft für Wilsons Bedeutung, als sei es eine Reminiszenz nur an ihn, eröffnet die Band die zweite Konzerthälfte mit „Pet Sounds“, dem titelgebenden Stück dieses bahnbrechenden Albums der Popgeschichte, jener kompositorischen Großtat von Wilson, mit der er 1966 dokumentierte, dass er weit mehr als arglosen Surfersound im Repertoire hat.

Brian Wilson ist bekanntlich ein schwieriger Charakter, lange Jahre gebeutelt von schweren körperlichen und psychischen Problemen, zudem ist er soeben siebzig Jahre alt geworden. Eine exaltierte Show hätte man von ihm, der auf der Bühne mit seiner Jogginghose bemerkenswert das edle weiße Piano kontrastiert, folglich nicht erwartet. Diese Show liefern auch die anderen rüstigen Senioren nicht, vielmehr bestechen sie mit unprätentiöser, cooler Eleganz, besonders Love als bestens gelaunter Conférencier. Die ganze Show, auch dies ist schließlich ein schöner Beleg für die Wirkmacht, die Musik entfalten kann, kommt übrigens ohne Videowände, nennenswerte Lichteffekte oder sonstigen Schnickschnack aus. Sie zehrt in ihrer überzeugenden Umsetzung allein von der Wiederhörensfreude und dem exzellenten Songmaterial und gerät den Beach Boys – Hut ab, wer hätte das geahnt? – zu einem in jeder Hinsicht verblüffenden Konzertabend.