Vor genau einhundert Jahren bebte die Erde auf der Alb. Es war die heftigste Erschütterung Mitteleuropas seit 1755. Ein Rückblick.

Ebingen - Am späten Abend des 16. November 1911 bebte es gewaltig auf der Westalb bei Ebingen. In der "Chronik der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Stuttgart 1911" liest sich das Ereignis so: "Um 10 Uhr 26 Minuten 16 Sekunden nachts, wie die nachträglichen genauen Feststellungen ergaben, kam, von brausendem Geräusch und unterirdischem Rollen begleitet, ein Stoß von einer in unsern Gegenden unerhörten Heftigkeit, der in der Richtung von Ostsüdost auch Westnordwest verlief, und dem um 3 Uhr 3 Minuten 45 Sekunden ein zweiter schwächerer nachfolgte." In der Chronik ist auch vermerkt, dass sich das Erdbeben etwa von Wien bis Besançon und Belfort und von Thüringen (Erfurt) bis nach Italien erstreckte.

 

Im Land war laut Chronik "vor allem das obere Schmiecha- und Eyachtal, namentlich die Gemeinden Ebingen und Lautlingen" - also das heutige Albstadt - betroffen. Es gab eine "gewaltige Panik", aber glücklicherweise keine Verletzten oder gar Tote. Zum einen dauerte das Beben nur wenige Sekunden, zum anderen waren wegen der späten Stunde kaum Menschen unterwegs, so dass niemand von den - praktisch nur von Kirchen - herabfallenden Gebäudeteilen getroffen wurde. Auch Konstanz litt unter den Erschütterungen. Dort stürzte beispielsweise die Turmspitze des Münsters in die Tiefe.

Das Zentrum des Bebens lag unter Lautlingen, wie Götz Schneider berichtet, der ehemalige Leiter des baden-württembergischen Erdbebendienstes. Bei seinem Vortrag "Das Erdbeben vom 16.11. 1911 auf der Schwäbischen Alb - ein anstößiges Ereignis", den er dieser Tage vor Mitgliedern der Gesellschaft für Naturkunde in Württemberg im Stuttgarter Löwentor-Museum hielt, gab er die Stärke des Bebens mit der Magnitude 5,7 an. Auf der berühmten Richter-Skala wurde sogar der Wert 6,1 erreicht - mithin das bislang stärkste in Deutschland gemessene Beben.

Prognosen für zukünftige Erschütterungen kaum möglich

Wie die Rekonstruktion des Naturereignisses ergab, lag das Hypozentrum - also der "Zünder des Bebens", wie es Schneider formuliert - in zehn Kilometer Tiefe. Der folgende Scherbruch in zwei bis zehn Kilometer Tiefe führte zur Verschiebung einer etwa acht mal acht Kilometern großen Region um etwa 20 Zentimeter. Dabei kam der Bruch im Untergrund und das nachfolgende Erdbeben damals wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. Vorher war es auf der Zollernalb seismisch recht ruhig gewesen. Aber nicht danach: 1943 und 1978 wurden in derselben Gegend zwei weitere vergleichbar starke Beben registriert. "Erdbeben lieben es gesellig", kommentiert Schneider diese typische Häufung.

Die Ursache für dieses folgenträchtige Rumoren in der Tiefe ist übrigens nicht der berühmte Hohenzollerngraben, sondern die sogenannte Albstadt-Scherzone. Diese "schwäbische Erdbebenlinie" erstreckt sich in Nord-Süd-Richtung entlang eines Bruchsystems, das vom westlichen Bodensee über Albstadt bis in den Raum Stuttgart reicht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Beben in der Welt handelt es sich bei den in Süddeutschland vorkommenden Erschütterungen mitten in einer Kontinentalplatte und nicht an deren Rändern - daher auch der Name Intraplattenbeben.

Dort bauen sich die Spannungen indes weit langsamer auf. Laut Schneider gleiten unter der Westalb die beiden Blöcke nur mit einer Geschwindigkeit von 0,1 Millimetern pro Jahr aneinander vorbei - in Japan schiebt sich der Pazifik dagegen mit 80 Millimetern pro Jahr unter Asien. Entsprechend lange dauert es, bis sich bei uns die für ein größeres Beben entsprechenden Spannungen aufgebaut haben: Schneider rechnet mit etwa 2000 Jahren. Allerdings lassen sich vor allem wegen der langsamen Bewegungen tief unten in der Erde kaum Prognosen für zukünftige Erschütterungen machen. Auch beim letzten großen Albbeben von 1978 wurden keinerlei Vorzeichen registriert, obwohl es inzwischen viele hochempfindliche Messstationen gibt.

Das Beben brachte der Forschung einen gewaltigen Schub

Selbst wenn es an den Bruchzonen mitten in einer Kontinentalplatte nur vergleichsweise schwach rumst, so stellt doch Südwestdeutschland die am stärksten durch Erdbeben gefährdete Region Mitteleuropas nördlich der Alpen dar. Im Durchschnitt kommt es hier einmal im Monat zu einem Beben der Stärke 3 - neben der Alb vor allem im Rheingraben. Doch immer wieder bebt es eben auch stärker, und dann kann hinsichtlich der Schäden auf der zwölfteiligen Intensitätsskala der Wert VIII erreicht werden. Dabei kommt es zu schweren Gebäudeschäden, etwa abbrechenden Giebelteilen. Der Wert IX wurde in Mitteleuropa nur beim schweren Erdbeben 1356 in Basel erreicht. Damals gab es neben vielen schweren Schäden auch 300 Tote.

Das Beben von 1911 brachte der Forschung - insbesondere der Seismologie - einen gewaltigen Schub. Bereits 1892 hatten Vertreter der süddeutschen Erdbebenkomissionen in Basel beschlossen, eine Bebenwarte in Württemberg zu errichten. An der Landwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim waren bereits 1893 sechs unterschiedliche Seismometer in Betrieb. Bald gab es ausgefeiltere Pendel, die auf horizontale wie vertikale Bodenbewegungen ansprachen. Sie lieferten dann, genauso wie die Messgeräte in der Nebenstation in Biberach, gute Aufzeichnungen des "Großen Süddeutschen Erdbebens von 1911".


1911 Das Beben vom 16. November richtete trotz der Stärke 6,1 dort insgesamt nur „sehr mäßige“ Gebäudeschäden an, wie eine damalige Chronik berichtet. Bei einem „29-jährigen Mädchen stellten sich Nervenerschütterungen ein“. Und „eine kranke Frau bekam vom Schrecken einen Herzschlag“.

1943 Beim Beben am 18. Mai der Stärke 5,6 waren mit die größten Schäden an der Reutlinger Marienkirche zu verzeichnen.

1978 Am schadenträchtigsten der drei großen Beben waren die Erschütterungen in Albstadt am 3. September mit der Stärke 5,7. Der versicherte Schaden an knapp 7000 Gebäuden belief sich auf etwa 275 Millionen Mark.